von Cornelia Hüsser • 09.05.2023
Verlag: Zytglogge
296 Seiten · Hardcover
Erscheinungstermin: März 2023
ISBN: 978-3-7296-5119-7
Das Eis schmilzt, der Verstand auch: Ein Kreuzfahrtschiff befährt – mittlerweile ganzjährig, da das Eis verschwunden ist – die Nordostpassage. Mit rechten Dingen geht es auf der Diamond allerdings nicht zu.
Für Léon Portmann nämlich tun sich Risse in der Realität auf. Ende zwanzig, noch immer Student, seit vier Jahren mit Kathrin liiert und trotzdem in seiner Jungs-WG verhaftend: der für die Generation der Millennials symptomatische Protagonist kriegt es nicht auf die Reihe. Eigentlich wollte seine Freundin diesen Urlaub alleine antreten, Léon hat sich mehr oder weniger ungefragt angehängt, obwohl er diese Art des Reisens gar nicht mag.
Und es kommt, wie es kommen muss: in der Enge der Kabine bricht die grosse Frage der Beziehung auf. Kind oder kein Kind? Léon verschwieg Kathrin bisher einen diesbezüglich nicht irrelevanten Fakt; doch bevor es zum Geständnis kommt, verschwindet Kathrin.
Es mag zunächst absurd erscheinen, auf einem ausgebuchten Kreuzfahrtschiff für ein paar Tage in Ruhe gelassen werden zu wollen. Doch Kathrin gelingt es. Sie kehrt nicht in die Kabine zurück, ist weder beim Frühstück anzutreffen noch auf dem Handy erreichbar. Léon bleibt allein zurück und widmet sich dem mitgebrachten Haschklumpen.
War das endlich das Zeichen, dass er nicht verrückt war, ein Zeichen, dass er die Zeichen richtig gedeutet hatte, dass die Dinge zusammenhingen?
Ob das, was folgt, Wahn oder Wirklichkeit ist, ist schwer zu sagen. Kathrin bleibt so sehr verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Auch Léons berechtigte Existenz als Passagier scheint dem Schiffspersonal nicht mehr bekannt zu sein; im Gegenteil, sie beginnen ihm nachzustellen, als wäre er ein Eindringling. Immer weiter flüchtet er sich also hinein in den Schiffsbauch, weg von der metaphorischen wie wörtlichen Oberfläche.
Die Glitches in Léons Realität werden zum Programm. Man fragt sich, wo der Wahn begonnen hat: beim Verschwinden seiner Freundin, bei den Wahn- und Verschwörungsvorstellungen, die er daraufhin entwickelt? Oder hat er sich die ganze Beziehung überhaupt nur eingebildet?
Eine grosse Zahl [der Passagiere] war auf gelbe Schaumstoffliegen drapiert. Dort übten sie unter der Polarsonne das Leben als Pflanze.
Der grösste Glitch in dieser Geschichte ist mit Sicherheit der Mensch an sich. Die Nordostpassage ist mittlerweile ganzjähig eisfrei, manche Passagiere verbringen 365 Tage im Jahr auf dem Seeweg über Eurasien. Wie zu erwarten, haben sie in unserer Gegenwart nichts gelernt: anstatt einfach auf klimaschädlichen Konsum zu verzichten, landet Synthetikfleisch auf dem Teller. Die Meere sind leergefischt, aber auch die Makrele kann problemlos analogisiert werden. Und obendrauf kommt die schlichte Tatsache, dass die Handlung auf einem Kreuzfahrtschiff – einer der grössten CO2-Schleudern überhaupt – spielt.
Über den Geisteszustand seines Protagonisten lässt einen Adam Schwarz derweil im Unklaren. Die zusätzliche Ebene eines in die Jahre gekommenen Computerspiels, in dem Léon gezielt nach einem bestimmten Glitch sucht, verwirrt mehr, als dass sie zur Aufklärung beitragen würde. Was bleibt, ist ein unterhaltsamer Roman, in dem die Endzeitstimmung fein eingewoben wird – dessen grosses Thema aber diffus bleibt.