von Cornelia Hüsser • 05.08.2023
In der monatlichen Buchkolumne wird über Landes-, Genre- und Erscheinungstermingrenzen hinaus geblickt und besprochen, was sonst noch gelesen wurde. Hot or not? Erfahrt hier, welche alten und neuen gebundenen und geklebten Papierstapel sich lohnen und welche nicht. Mit knallharter Sterne-Wertung.
Der Juli war ein dankbarer Lesemonat: Sommerferien und damit viel Zeit, den SUB (Stapel ungelesener Bücher) etwas zu verkleinern. Und ihn dann wieder zu vergrössern. Wobei die Selbstbeherrschung bei manchen grösser, bei manchen kleiner ausfiel. Es gibt einfach zu viele nette Orte, an denen man Geld gegen Druckerzeugnisse eintauschen kann.
Westdeutschland, 1970er Jahre. Noch glaubt Willy daran, sich mit anständiger Arbeit seinen Anteil am Wohlstand verdienen zu können. Für seinen Freund Horst, der als ungelernte Hilfskraft auf Baustellen stets ausgebeutet wird, ist dieser Traum schon lange zur Illusion geworden. Er gleitet nicht nur in den Alkoholismus, sondern auch in die Kleinkriminalität ab – und langsam zieht er Willy und ihrer beider Familien in seine Abwärtsspirale mit hinein.
«Schön ist die Nacht» ist ein Klassenroman, der überhaupt nichts beschönigt. Er zeigt eindringlich die Lebensrealität einer Gesellschaftsschicht auf, die im wirtschaftlichen Aufschwung lebt, aber selber davon nichts hat – weil sie die Kosten trägt. An manchen Stellen etwas zu lang geraten, liest sich der Roman trotzdem flüssig und verweist entschieden auf die Problematik der Klassengesellschaft.
2022 • 384 Seiten • Claassen • Bestellen
Akari ist besessen von Masaki, einem Mitglied einer beliebten J-Pop-Band. Ihr ganzes Geld geht für CDs und Fanartikel drauf, die sie immer gleich mehrfach kauft; in einem eigenen Blog analysiert sie Masakis Interviews und hält jedes Detail über ihn fest, das sie irgendwo aufspüren kann. Im echten Leben hingegen bleibt Akari antriebslos und zieht sich zurück. Als das Gerücht aufkommt, dass Masaki einen Fan bei einem Konzert geschlagen haben soll, ist das Internet gnadenlos – und Akari muss eine Entscheidung treffen.
«Idol in Flammen» ist, zumindest für Szeneneulinge wie mich, faszinierend und erschreckend zugleich. Zehnmal dasselbe Album kaufen, weil sich darin eine Abstimmungskarte befindet, mit der man das beliebteste Bandmitglied wählen kann? Würde ich eher nicht in Betracht ziehen. Auf jeden Fall aber eine kurzweilige (und kurze) Lektüre, die für meinen Geschmack gerne noch mehr in die Tiefe hätte gehen dürfen.
2023 • 128 Seiten • Kiepenheuer & Witsch • Bestellen
Vier Personen, vier Schicksale, vier Epochen: Menschliche Emotionen und die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben verbindet die Vergangenheit mit der Zukunft. Der Klang einer Violine löst im 20. Jahrhundert eine Suche aus, die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt – und unsere pandemiegeplagte Gegenwart gleichermassen betrifft wie kommende Kolonien auf dem Mond. Was bedeutet Zeit, wo finden wir Ruhe?
«Das Meer der endlosen Ruhe» bietet alles, was uns heute beschäftigt: Seuchen, Weltuntergang, Welten- und Zeitreisen, Freundschaft, Misserfolg, Menschlichkeit. Emily St. John Mandel baut ihre Welten voller Fantasie auf und erzählt die Geschichte ihrer Figuren im genau richtigen Tempo. Ein hervorragender Science-Fiction-Roman, den ich kaum aus der Hand legen konnte.
2023 • 288 Seiten • Ullstein • Bestellen
Ein Mann verjagt die geliebte Katze seiner Frau; eine Mutter ist gezwungen, nach der Scheidung ihr Haus zu verkaufen; eine junge Ehefrau sehnt sich nach nichts mehr als nach einem Regenschirm, und der Aufmerksamkeit ihres Mannes. In ihrer Kurzgeschichtensammlung «Böses Glück» beleuchtet Tove Ditlevsen das Leben im Kopenhagen des 20. Jahrhunderts – insbesondere das der Frauen, die davon träumen, aus den ihnen zugeschriebenen Rollen auszubrechen und ihren eigenen Wünschen zu folgen.
Normalerweise keine Freundin der Kurzform, fand ich die Geschichten in «Böses Glück» dennoch aussagekräftig und pointiert. Sie ermöglichen nicht nur einen guten Einblick in die damaligen Lebensrealitäten von Frauen, sondern bieten auch einen guten Einstieg in das Werk von Tove Ditlevsen (und wem es gefällt, der*die kann gleich mit der beeindruckenden Kopenhagen-Trilogie weiterfahren (die weniger umfangreich ist, als der Begriff «Trilogie» vermuten lässt)).
2023 • 176 Seiten • Aufbau • Bestellen
Was wäre, wenn das Internet niemals erfunden worden wäre – dafür aber die Teleportation? Dieses Gedankenexperiment stellt «Der Apparat» an und erzählt von den ersten Versuchen in klobigen Schränken, dem Versand von Dingen und schliesslich von Menschen. Das wirft natürlich Fragen auf: Ist das, was die Maschine hier zersetzt, am Ankunftsort noch immer dasselbe? Übersteht man den Transport tatsächlich so unbeschadet, wie alle behaupten? Und was ist, wenn sich ein Paar über die Verwendung des Apparats uneinig ist?
«Der Apparat» zielt bewusst auf Parallelen zwischen dem Aufkommen des Internets und des fiktiven Teleportationsgeräts ab. Leider aber werden die erhofften «Gedankenexperimente» meist nur an der Oberfläche abgehandelt. Wie wird die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, wenn jemand die neue Infrastruktur nicht nutzen will oder kann? Was geschieht bei einem Ausfall? Genau das sind doch in unserer, der Internet-Welt, die drängenden Fragen – fanden hier aber zu wenig Platz.
2023 • 240 Seiten • Rowohlt • Bestellen
Greta ist im sechsten Monat schwanger. Das ist kein Grund zur Freude: Ein neues Gesetz erlaubt es allen Männern des Landes, jegliches Geld, das sie in eine Frau investiert haben, innert kürzester Frist zurückzuverlangen. Und Gretas Verlobter tut genau das – doch ihr fehlen die Mittel, um die Forderung zu begleichen. Konfrontiert mit der Kälte des Menschen, mit dem sie ihre Zukunft verbringen wollte, muss sie nach einer anderen Lösung suchen.
«12 Grad unter Null» ist eine grausame Dystopie, verfasst in poetischer Sprache. Man mag wenig Verständnis dafür aufbringen, dass Greta sich überhaupt ein Exemplar wie Henri zur Familienplanung ausgesucht hat, alles in allem bekommt man aber schöne Gilead-Vibes. Für mich hätten es gerne noch ein paar Seiten mehr sein dürfen.
2023 • 144 Seiten • Haymon • Bestellen
Ein Virus hat in der nahen Zukunft sämtliche Tiere befallen und ihr Fleisch in der Folge ungeniessbar gemacht. Der Menschheit bleibt darum nichts anderes übrig, als zum Veganismus Kannibalismus überzugehen. Sie tut dies auf dieselbe Weise wie bisher: in einer perfekt organisierten Industrie aus Zuchtfarmen, Schlachthöfen und Metzgereibetrieben.
«Wie die Schweine» hätte Themen wie Umweltzerstörung, Nahrungsunsicherheit und Rassismus/Speziesismus behandeln können. Stattdessen beschränkt es sich auf die stupide Darstellung von Gewalt mit dem vergeblichen Versuch, dem Protagonisten in letzter Minute einen menschlichen Anstrich hinterherzuwerfen. Diese Dystopie ist in Zeiten von Seitan, Erbsenproteinen und Laborfleisch einfach zu absurd, und: die eigentliche Handlung leider auch schlicht langweilig.
2020 • 237 Seiten • Suhrkamp • Bestellen
Eine neue Wohnung, eine Einladung zum Essen: vier Gäste, guter Crémant und eine einfache Quiche sollen es werden. Doch es läuft nicht alles so perfekt, wie die Gastgeberin es geplant hat, und sie muss mehrere Male neu zum gelungenen Abend ansetzen. Zwischen passiv-aggressivem Geplänkel, Selbstdarstellung und Foodporn auf Instagram und bemühter Lockerheit nimmt der Abend immer kuriosere Schlaufen …
«Kochen im falschen Jahrhundert» ist ein entlarvendes Kammerspiel über die Millennial-Generation der Mittelschicht. Unausgepackte Umzugskisten werden mit dänischem Design kaschiert. Es wird zelebriert statt genossen, dargestellt statt diskutiert, die persönliche Rolle kuratiert und auf Instagram hochgeladen. Diese Erkenntnisse sind nicht unbedingt tiefschürfend, aber gut beobachtet und äusserst unterhaltsam.
2023 • 198 Seiten • Wallstein • Bestellen