von Cornelia Hüsser • 01.06.2024
Obschon ziemlich weit vom Gruselmonat Oktober entfernt, bot der Mai diverse literarische Horrore (Horrors?): Dystopien über mentale Parität oder das kollektive Niederlegen der Care-Arbeit, albtraumhafte Alltagsszenen, ein Essay zum Klimakollaps … Oder ganz einfach eine Lektüre auf Französisch (die ich weniger bereut habe als befürchtet). Viel Spass beim Eintauchen.
In einer alternativen Realität ist die westliche Welt unserer heutigen ganz ähnlich – mit einem kleinen Unterschied: Die Mental-Parity-Bewegung hat sich durchgesetzt und alle Menschen in Sachen Intelligenz gleichgestellt. Nichts und niemand darf mehr dumm genannt werden; Universitäten dürfen keine Prüfungen mehr durchführen; für freie Stellen sind alle gleichermassen qualifiziert. Lehrerin Pearson und Moderatorin Emory finden sich auf plötzlich entgegengesetzten Seiten der Bewegung wieder – und ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt.
«Mania» kann verschieden gelesen werden: Als Satire auf das kaputte Bildungssystem oder die kaputte Politik der USA, als Rant auf Tone Policing / Cancel Culture oder schlicht als dystopisches Gedankenexperiment. Das eine wird einen glücklicher machen als das andere. Das Ganze fliesst zunächst eher zäh dahin, wobei das Ende dann allzu hastig (und vorhersehbar) eintritt. Insgesamt wird man ganz okay unterhalten, hat unterwegs aber keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse.
2024 • 288 Seiten • Harper Collins • Bestellen
Mini und Miki sind nicht von hier, aber sie bemühen sich, alles richtig zu machen. In kurzen Episoden erzählt der Band von ihren Abenteuern im grossstädtischen Alltag – skurril, abgründig und überspitzt. Sei es ein Umtrunk mit den Nachbarn, ein Besuch bei der Familie oder der gemeinsame Urlaub: Überall können grosse und kleine Albträume lauern.
Die Sprache ist rudimentär (oder authentisch?), ein übergeordneter Spannungsbogen fehlt. Amüsant ist das trotzdem, und man findet sich sicherlich selbst in der einen oder anderen Alltagsszene wieder.
2023 • 192 Seiten • Residenz Verlag • Bestellen
Die Frauen legen sich auf den Boden und tun nichts mehr. Sie kochen nicht mehr, sie pflegen nicht mehr, sie arbeiten nicht mehr. Drei Figuren – eine Influencerin, eine Pflegerin und einen Prekarier – begleitet die Autorin durch den stillen Protest. Wie lange es dauert, bis die Sache eskaliert, kann man sich ungefähr denken.
Viel interessanter als Fallwickls Hauptfiguren ist allerdings alles, was sie um diese herum geschehen lässt: die schnell bröckelnden Systeme, die hilflosen bis gewaltvollen Reaktionen der Gesellschaft und die toxischen Einstellungen, die auch die Beziehungen unter Männern prägen. Der Zusammenhalt unter den Frauen – aber nicht allen. «Und alle so still» beobachtet genau und legt den Finger in die Wunde. Gönnt euch also etwas Schmerz.
2024 • 368 Seiten • Rowohlt • Bestellen
Vier Länder, vier Epochen, eine Unendlichkeitsschleife: Das durchlebt die junge Frau Ada. 1459 ist sie Zeugin der Ankunft der Portugiesen im späteren Ghana; 1848 forscht sie im Feld der Mathematik; 1945 wird sie im KZ zur Prostitution gezwungen; und im heutigen Berlin sucht sie nach einer Bleibe für sich und ihr ungeborenes Kind. Und ohne es zu wissen, sind ihre Schicksale miteinander verbunden.
Erzählt werden die vier Geschichten nicht chronologisch, sondern in Zeitschleifen. Zu Ada gesellen sich ausserdem weitere, ungewöhnliche Erzählstimmen (ein Besen, ein Türklopfer etc.). Sie werden bewohnt von einem Wesen, dessen Aufgabe es ist, Ada zu beschützen – und das seinen Blick dadurch über die Jahrhunderte hinweg schweifen lassen kann. Der Roman spricht alles Schöne an, was sich die Menschheit so ausgedacht hat (Kolonialismus, Rassismus, Misogynie). Ausserdem ist er toll konstruiert und dürfte der Traum jedes einzelnen Deutschlehrers sein, den ich hatte – positiv gemeint.
2021 • 320 Seiten • Fischer • Bestellen
In Paris bringt eine Hitzewelle die Menschen um den Schlaf. Um den Temperaturen und dem schlechten Gewissen – schliesslich befeuert der westliche Konsum den Klimakollaps – zu entfliehen, sagt der Autor einem Segeltrip nach Porquerolles zu. Doch auf der Insel wird ihm erst recht bewusst, wie er als Tourist den Einheimischen ihr Land wegnimmt und es unwiederbringlich verändert.
«Landkrank» wirft die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen auf. Der Essay ist nicht nur eine Selbstreflexion, sondern zeigt auch sehr bildhaft und konkret die Konsequenzen unseres Handelns für Natur und Gesellschaft auf. Die Rolle des Kapitalismus, von Industrie und Konzernen lässt er allerdings komplett aussen vor. Insofern: ein guter Denkanstoss, den man so mitnehmen kann und soll – aber leider viel zu kurz gegriffen.
2024 • 122 Seiten • Suhrkamp • Bestellen
Das Tal, in dem Odile lebt, ist ein besonderer Ort: geht man nach Osten, erreicht man wieder denselben Ort, allerdings zwanzig Jahre später; geht man nach Westen, reist man wiederum zwanzig Jahre in die Vergangenheit. Als sie Besucher aus der Zukunft als die Eltern ihres Freundes erkennt, realisiert sie, dass er bald sterben wird – doch reden darf sie darüber mit niemandem.
«Das andere Tal» ist ein Coming-of-Age-Science-Fiction-Roman mit dystopischem Flair. Howard konstruiert eine düstere, bedrückende Welt, in der das Eingreifen in Zukunft oder Vergangenheit möglich (wenn auch verboten) ist. Das Zeitparadoxon umgeht er komplett. Damit muss man sich abfinden – bekommt dafür aber einen in sich gut konstruierten und spannend geschriebenen Roman.
2024 • 464 Seiten • Diogenes • Bestellen
Ein Comiczeichner aus Frankreich sucht in Sokcho die Stille zum Zeichnen. Die junge Angestellte der Pension, in der er sich einmietet, möchte genau dieser am liebsten entfliehen. Mit jedem Gespräch kommen sie einander näher. Beide suchen sie einen Neuanfang – und finden ihn je auf ihre eigene Weise.
Elisa Shua Dusapins Debüt ist ein ruhiger, einfühlsamer Roman, der um zwei Menschen mit unterschiedlichen Werten und Einstellungen kreist. Kulturelle Eigenheiten, Annahmen und Vermutungen über den anderen sind stets präsent, auch wenn sie nicht ausgesprochen werden. Überhaupt spielt sich das meiste, was dieser Roman thematisiert, unter der Oberfläche ab – wie so oft auch im wahren Leben. Eine unaufgeregte, aber schöne Lektüre.
2018 • 144 Seiten • Aufbau • Bestellen
Willkommen in Elsewhere – dem Ort, an den man nach dem Tod kommt. Hier landet Liz, und zwar schon mit knapp 16 Jahren. Schnell stellt sie fest, dass Elsewhere sich nicht allzu sehr von der Erde unterscheidet; nur, dass man hier rückwärts altert, bis man wieder zu einem Baby wird. Darüber ist Liz wenig erfreut – wollte sie doch erwachsen werden, Auto fahren, sich verlieben. Ob sie ihr Glück auch hier finden wird?
«Elsewhere» ist eine schöne Coming-of-Age-Geschichte, auch wenn die Protagonistin (rein technisch betrachtet) natürlich nicht mehr of age kommen kann. Sie durchlebt Hochs und Tiefs, schliesst Freundschaften, entdeckt, was ihr im Leben wichtig ist, und wird auf ihre Art erwachsen. Das Buch richtet sich eher an junge Leser:innen (ich griff zu, weil mir «Tomorrow, Tomorrow, and Tomorrow» sehr gut gefallen hat), später lässt es mehr Tiefe vermissen. Ich war aber gut unterhalten.
2005/2024 • 288 Seiten • Bloomsbury • Bestellen (Englisch)