thumbnail

Augenpulver #12: Bücher im Juni

von Cornelia Hüsser • 25.06.2024

Fast so gross wie die Temperaturunterschiede im Juni war auch das Qualitätsgefälle im hiesigen Literaturkonsum. Es gab unter anderem: Erzählungen aus frühen Internatsjahren (fantastisch), Druckerliebe (fragwürdig) und ein immer wieder neu interpretiertes Theaterstück (vorfreudig stimmend).

Necati Öziri: Vatermal ★★★☆☆Necati Öziri – Vatermal

Arda bleibt nicht mehr viel Zeit – er liegt mit multiplem Organversagen im Krankenhaus, keine Behandlung zeigt Wirkung. In Gedanken wendet er sich an seinen Vater, den er nie kennengelernt hat und der wieder in der Türkei lebt – mit seiner neuen Familie. Arda erzählt ihm von seiner Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet, von vielen Stunden beim Ausländeramt, von Freund-, Feind- und Liebschaften. Immer wieder nimmt er auch die Sicht von Mutter Ümran ein, die sich ihr Leben bestimmt anders vorgestellt hat – und von Schwester Aylin, die auf keinen Fall den gleichen Weg einschlagen will.

Während die Erzählungen der Vergangenheit gut und interessant ausgestaltet sind, trägt die Rahmenhandlung (die Krankenhaussituation) nichts zur Geschichte bei. Die (lange, ausformulierte) Briefform ist störend, sobald man sich vor Augen hält, dass der Autor des Briefs gerade vor sich hin stirbt. Dieser Rahmen hätte genauso gut weggelassen werden können – es wäre noch immer eine gute Erzählung zu den Themen Migration, Klasse, Kultur und Marginalisierungserfahrungen. Also: durchaus lesenswert, wird aber dem Hype nicht gerecht.

2023 • 304 Seiten • Claassen • Bestellen

Fien Veldman: Xerox ★★☆☆☆Fien Veldman – Xerox

Wie findet man seinen Platz, wenn alle die Regeln kennen, nur man selbst nicht? Die Erzählerin hat sich niedergelassen: auf einem Bürostuhl neben einem Drucker, dem sie zugeneigter ist als ihren Start-up-Kollegen. Hier druckt sie ihre Kundenbriefe, braucht mit niemandem zu sprechen und fühlt sich damit eigentlich ganz wohl. Vor Konfrontationen (das beginnt bei einem Hallo auf dem Flur) nimmt sie sofort Reissaus, und als sie von ihrem Drucker getrennt wird, sehnt sie sich nach nichts mehr, als mit ihm wiedervereinigt zu werden …

Kurz: Ich weiss nicht, was ich da gerade gelesen habe?! Es gibt eine Odyssee durch Amsterdam wegen eines verlorenen Pakets, eine Freistellung zwecks Psychohygiene und einen mysteriösen blauen Zettel an der Tür. Ich weiss aber nicht, ob es hier um Bullshit-Jobs, die blöde Start-up-Kultur, sozialen Aufstieg oder soziale Ängste gehen soll. Es passieren einfach Dinge, und dann ist das Buch vorbei, und man ist nicht schlauer als vorher. Etwa so packend wie ein Kartuschenwechsel.

2024 • 224 Seiten • Hanser • Bestellen

Patricia Highsmith: Der talentierte Mr. Ripley ★★★☆☆Patricia Highsmith – Der talentierte Mr. Ripley

Vom New Yorker Kellerloch ins italienische Dolce Vita: Davon träumt Tom Ripley, als er zu seinem Freund Dickie Greenleaf nach Mongibello geschickt wird, um diesen zu einer Rückkehr in die USA zu überreden. Doch wie weit Ripley tatsächlich gehen würde, um wie Dickie zu leben, ahnt niemand …

Als Klassiker der Kriminalliteratur lässt einen «Der talentierte Mr. Ripley» in die Psyche eines gefühllosen, unsicheren Psychopathen eintauchen. Allzu talentiert finde ich ihn allerdings nicht, hat er doch mehr Glück als Verstand, wenn es darum geht, seinen Lebenswandel zu installieren. Etwas langatmig, wenn man nicht mit Freude über Ermittlungsvorgänge liest. Schön sind dafür wiederum die (selbstironischen?) Seitenhiebe Highsmiths auf das amerikanische Ego.

1955/2003 • 432 Seiten • Diogenes • Bestellen

Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung ★★★★★Fleur Jaeggy – Die seligen Jahre der Züchtigung

Ein Mädcheninternat im Appenzell der 1960er Jahre: Hier lebt die vierzehnjährige Erzählerin unter strenger Hand, der Alltag ist geprägt von Überdruss und Langeweile. Als eines Tages eine Neue ankommt, ist sie hingerissen: sie scheint perfekt, der Gehorsam zur zweiten Natur geworden zu sein. Sie versucht, sie für sich zu gewinnen. Doch erst viel später im Leben gelingt es ihr, die abgründige Liebe in Worte zu fassen.

Fleur Jaeggy gelingt es, die Lesenden abseits eines Plots in ihren Bann zu ziehen. Die klaren, treffenden Sätze entfalten eine hypnotische Wirkung, die Erzählung ist dicht, obwohl nichts passiert. Ein grossartiger Text auf kleinem Raum.

1989/2024 • 10 Seiten • Suhrkamp • Bestellen

Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts III ★★★☆☆
Solvej Balle – Über die Berechnung des Rauminhalts III

Tara Selter bleibt in einer Zeitschleife gefangen – doch sie ist nicht mehr allein. In einer Vorlesung fällt ihr Henry auf, der an einem früheren 18. November ebenfalls dort war, aber irgendwie … anders. Obwohl die beiden ihre Welt ganz unterschiedlich wahrnehmen, entsteht doch so etwas wie Freundschaft. Und bald stellt sich heraus, dass es noch weitere Menschen mit demselben Problem gibt …

Der dritte Zeitschleifen-Band von Solvej Balle liest sich anfangs noch etwas zäh. Henry ist nicht so richtig sympathisch, und offenbar stimmt es, dass Menschen sehr häufig über das Römische Reich nachdenken (auch Frauen) (ich habe mir daraufhin erstmal ein Roggenbrot gegönnt). Spannend ist aber, wie nun unterschiedliche Wahrnehmungen aufeinandertreffen und Eingriffe in die Zeit versucht werden – das gibt der Geschichte neuen Schub. Und wie immer ist der Band viel zu schnell zu Ende.

2024 • 185 Seiten • Matthes + Seitz • Bestellen

Lukas Bärfuss: Einsiedler Welttheater 2024 ★★★☆☆
Lukas Bärfuss – Einsiedler Welttheater

Seit 100 Jahren wird auf dem Klosterplatz in Einsiedeln das Welttheater aufgeführt. Verfasst in den 1630er Jahren von Pedro Calderón de la Barca, wird es heuer von Autor Lukas Bärfuss neu interpretiert und in die aktuelle Zeit transportiert. Figuren und Kernthemen bleiben dieselben: Die unterschiedlichen Rollen der Menschen in der Welt, mit denen sie hadern und die sie doch zu erfüllen haben – ob alt oder jung, ob reich oder arm.

Das Stück von Bärfuss wird auf Mundart vorgetragen, das Buch beinhaltet aber auch eine schriftdeutsche Fassung. Sehen kann man das Spektakel vom 19. Juni bis 7. September 2024 in Einsiedeln (mehr Infos hier).

2024 • 176 Seiten • Rowohlt • Bestellen