von Cornelia Hüsser • 04.08.2024
Was gibt es Besseres, als mit einem guten Buch am Strand zu liegen und dem Rauschen der Wellen zuzuhören? Nur wenig. Sollte es rein zufällig jemanden nach Milano Marittima ziehen, gehört jedenfalls unbedingt die Kajal-Clique ins Gepäck. (Es liest sich aber natürlich auch in der Badi gut.)
Für alle, die sich nicht für die Sonnenanbetung erwärmen können, gibt es in dieser Augenpulver-Ausgabe Dystopisches, Thrilleriges und Feministisches. Hingewiesen sei auch noch einmal auf den Roman «Zugunruhe» von Levin Westermann – eine Naturbetrachtung in und um Biel, die Landschaft zur Sprache bringt.
Mit «1984» schuf George Orwell eine visionäre Dystopie über eine Welt der totalen Überwachung. Nun wird die Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählt – nämlich aus Sicht der weiblichen Hauptfigur Julia. Diese hat ihre eigenen Strategien entwickelt, im totalitären System zu überleben und ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu folgen. Erst als sie Winston kennenlernt, droht alles aus den Fugen zu geraten.
Sandra Newman haucht der weiblichen Protagonistin Leben und Charakter ein – mehr, als es (wenig überraschend) Orwell gelang. Der Blickwinkel ermöglicht es ausserdem, überhaupt erst in die weibliche Realität in Ozeanien einzutauchen, auch mittels weiterer Frauenfiguren. Dennoch frage ich mich, ob es dieses Buch gebraucht hat. Es erzählt schlussendlich dieselbe Geschichte noch einmal – während hier die Nebenfiguren viel spannenderen Stoff zu bieten gehabt hätten.
2023 • 448 Seiten • Eichborn • Bestellen
Die Kajal-Clique ist zurück! Wer mit den vier halbwüchsigen Wavern aus München bereits die 12 Leidensstationen nach Pasing durchlebt hat, darf sich freuen: Dieses Mal geht es in den ersten Sommerurlaub ohne Eltern – nach Italien. Und dort erwartet sie nicht nur Sonne, Strand und überteuertes Essen, sondern vor allem: Mädchen. Gutaussehende Mädchen. Die sich durchaus offen für Annäherungsversuche zeigen …
Wie schon der Vorgängerroman lebt auch «Lost in Translatione» vor allem von seinen Vibes. Wimmer schreibt ein erneutes Loblied auf die 1980er Jahre – doch statt Wave gibt es dieses Mal Italo-Disco, statt Fritten Spaghetti al burro. Zuverlässig werden skurrile Dialoge abgeliefert und denkwürdige Handlungen vollzogen. Und nicht selten denkt man bei sich, nun vielleicht doch etwas zu viel über den Autor zu wissen … Einmal mehr eine amüsante, kurzweilige und süffig zu lesende Lektüre, perfekt für die Sommerferien.
2024 • 288 Seiten • Blond Verlag • Bestellen
Ein Misanthrop, der eine eigene Sprache namens Balbuta erfindet; eine Hexe, die auf eine atomverseuchte Insel entführt wird; ein Ermittler, dessen Fall ihn durch das Europa der nahen Zukunft führt. Sechs Geschichten tischt uns Alhierd Bacharevič in seinem Monsterroman auf und bedient sich bei verschiedensten Genres: Hier sind Science Fiction und Krimi, Lyrik und Mythologie versammelt. Manche Motive kehren zurück und verbinden die Geschichten lose miteinander.
Es ist schwer zu leugnen, dass «Europas Hunde» ein echter Brocken und nicht die beste Strandlektüre ist. An mancher Stelle ufert die Erzählung aus und liest sich zäh. Die ganz Ambitionierten übersetzen die Balbuta-Stellen mittels beigelegten Wörterbuchs. Die Arbeit, die dieses Buch verlangt, lohnt sich aber. Es ist beeindruckend, wie Bacharevič die stets unter der Oberfläche wabernde Angst vor der Rückkehr eines grossrussischen Reichs in seine Geschichten einfliessen lässt – und die europäischen Nationen in die Mangel nimmt.
2017/2024 • 740 Seiten • Voland & Quist • Bestellen
Die 16-jährige Lena verschwindet spurlos. Drei Tage später taucht ein verstörendes Video von ihr auf, das sofort viral geht. Während die Ermittler weiter im Dunkeln tappen, formiert sich eine rechtsradikale Gruppierung namens «Aktiver Heimatschutz», die Lena auf eigene Faust rächen will – und eine gefährliche Dynamik nimmt ihren Lauf …
Auch wenn man in Klings neuem Roman «VIEWS» den eigentlichen Braten schon von Weitem riecht (im Gegensatz zur Polizei): Er vereint gleich zwei hochaktuelle und gesellschaftlich relevante Themen. Es kann also durchaus nicht schaden, ihn zu lesen. Allzu Tiefschürfendes sollte man dabei aber nicht erwarten – es bleibt ein Thriller, doch mit gutem Tempo und geschickt konstruiert.
2024 • 272 Seiten • Ullstein • Bestellen
Toxische Männlichkeit kennen wir mittlerweile alle. Sophia Fritz lädt dazu ein, sich Gedanken über die (eigene) toxische Weiblichkeit zu machen. Damit ist nicht etwa die fehlende Solidarität zwischen Frauen gemeint, sondern «evasive Verhaltensweisen wie Überangepasstheit, Gefälligkeit und die Übernahme fremder Gefühle — lauter Aspekte, die wir anerzogen bekommen haben und für die wir aus patriarchaler Perspektive gepriesen werden.»
Beispielhaft skizziert Fritz die Archetypen des Guten Mädchens, der Powerfrau, der Mutti, des Opfers und der Bitch, bei denen sich toxische Weiblichkeit jeweils unterschiedlich äussert. Hier sind einige interessante Denkanstösse dabei. Insgesamt stützt sich das Buch aber auch stark auf die persönlichen Erfahrungen der Autorin ab, was sich dann eher wie eine Aneinanderreihung von Anekdoten liest. Manchmal durchaus interessant, aber ein sachlicherer Zugang wäre mehr nach meinem Geschmack gewesen.
2024 • 192 Seiten • Hanser • Bestellen
Frau Shibata ist Anfang dreissig und arbeitet als Angestellte in einer Firma in Tokyo. Als einzige Frau im Team ist sie nicht nur verantwortlich für ihre eigentlichen Aufgaben, sondern auch fürs Kaffeekochen, das Aufräumen und das Bedienen der Gäste. Doch dann hat sie die Nase voll – und behauptet kurzerhand, schwanger zu sein.
Emi Yagi erzählt von einer Gesellschaft, in der Frauen sexistisch diskriminiert, als (werdende) Mütter aber kurzzeitig überhöht werden. Warum das so ist, wird allerdings nicht ergründet – der Fokus liegt auf der Show und dem Versteckspiel, in das sich Shibata hineinmanövriert. Eine unterhaltsame Geschichte, die aber mehr Biss vertragen hätte.
2020/2022 • 208 Seiten • Hoffmann & Campe • Bestellen
Sein Name ist komplett unironisch: Hunter White ist ein steinreicher, weisser Amerikaner und begeisterter Jäger. Als sein Freund van Heeren ihm ein Nashorn zum Abschuss anbietet, reist er nach Afrika, um endlich seine Big Five vollzumachen. Doch dort wird sein Plan von Wilderern durchkreuzt. Hunter sinnt auf Rache – bis ihm van Heeren von den Big Six erzählt …
Gaea Schoeters schreibt über eine weisse Sicht auf den afrikanischen Kontinent. Und es gelingt ihr hervorragend, die Absurdität herauszuschälen, die darin liegt: die Romantisierung einer unerbittlichen Wildnis, die Überheblichkeit und Doppelmoral des Menschen und seine zunehmende Abstumpfung sind die Themen, die unter dem (zugegebenermassen) effekthascherischen Plot hervortreten. Ihre Figuren sind zynisch und grausam – und dadurch allzu real. «Deine westliche Moral ist ein Luxusprodukt, das man sich leisten können muss. Der Rest der Welt muss mit Pragmatismus auskommen.»
2024 • 256 Seiten • Zsolnay • Bestellen