thumbnail

Augenpulver #15: Bücher im September

von Cornelia Hüsser • 30.09.2024

Alljährlich startet unser kultureller September am wunderbaren Fantoche Filmfestival in Baden. Zeit für Bücher bleibt trotzdem immer – zum Beispiel für eine Dystopie, eine gescheiterte Utopie oder Geschichten, die so brutal wie berührend sind.

Simone Weinmann: Die Erinnerung an unbekannte Städte ★★★★☆

Eine nicht näher benannte Katastrophe hat die Menschheit auf eine bäuerliche Existenz zurückgeworfen – ohne Strom, ohne medizinische Versorgung, dafür geprägt von einer neuen Religiosität. Nathanael, für den seine Eltern eine Predigerlaufbahn vorgesehen haben, beschliesst, nach Italien zu fliehen; dort soll es noch ein Polytechnikum geben, an dem er Medizin studieren kann. Eine Mitschülerin begleitet ihn, ein Lehrer wird ihnen nachgeschickt – doch der Weg durch gesetzloses Gebiet ist voller Gefahren.

Simone Weinmann erzählt bildhaft von einer Welt, in der eigentlich nur eine einzige Komponente verloren gegangen ist: der Strom.  Doch mit ihm bricht der gesamte technische Fortschritt weg, es gibt keine Ernährungssicherheit mehr, Menschen sterben wieder an einer Erkältung. Manche klammern sich am Glauben fest, andere am Wissensdurst und der Hoffnung, die verlorene Zivilisation wieder aufbauen zu können. Ein spannendes Gedankenspiel, das keine Ursachen erklären will, sondern sich auf den Umgang mit den Konsequenzen fokussiert.

2021 • 272 Seiten • Kunstmann • Bestellen

Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein ★★★★★

Hätte Shakespeare eine Schwester mit ebenbürtigem Talent gehabt, wie wäre es ihr ergangen? Im Oktober 1928 hielt Virginia Woolf zwei Vorträge am ersten Frauencollege Grossbritanniens. Daraus entstand ein Essay, in dem die Autorin ausführt, was Frauen brauchen, um grosse Literatur zu produzieren: eigenes Geld und geistige Unabhängigkeit, symbolisiert durch ein eigenes Zimmer.

Woolf geht mit überraschend viel Witz und Ironie den Gründen nach, warum genau das so vielen Frauen verwehrt blieb – und auch heute noch bleibt, denn vieles aus dem Text hat auch nach fast 100 Jahren nicht an Aktualität eingebüsst. Unbedingt lesenswert, immer und für jede:n.

1929/2020 • 192 Seiten • Kampa • Bestellen

Franz Friedrich: Die Passagierin ★★☆☆☆

Nach vielen Jahren kehrt Heather zurück in das Sanatorium in Kolchis, in das sie als Teenager evakuiert wurde – aus einer anderen Zeit heraus. Die Infrastruktur befindet sich mittlerweile im Zerfall, doch einige Evakuierte wohnen noch immer hier. Gemeinsam versuchen sie, mit der Einsamkeit und den Phantomerinnerungen umzugehen, unter denen viele von ihnen leiden.

Selten habe ich ein Buch gelesen, das so stark begonnen und so rasant abgesackt ist. Die Prämisse ist vielversprechend: Menschen aus unterschiedlichen Epochen werden an einen gemeinsamen Ort evakuiert, müssen dort kulturelle und sprachliche Differenzen überwinden und können voneinander lernen, um eine lebenswerte Zukunft zu gestalten. Was daraus gemacht wird: hunderte (!) von Seiten Rückblenden in die Zeit des Deutschen Bauernkriegs, dazu ein bisschen DDR und Anna Göldi (beides bei weitem nicht so detailliert ausgeführt). Irgendwo ging der Fokus verloren, der Text wirkt unstrukturiert und beliebig. Der erzählerische Rahmen tut schlussendlich nichts mehr zur Sache. Bedauerlich.

2024 • 512 Seiten • Fischer • Bestellen

Kae Tempest: Verbundensein ★★★☆☆

In dem Essay «Verbundensein» zeichnet Kae Tempest zugleich ein intimes Selbstporträt und eine Diagnose unserer Zeit. Es geht um Kreativität und das Gefühl von Verbundenheit, um soziale Ängste und den Wunsch nach Anerkennung, um Rauschzustände und Selbstausbeutung. Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die nicht von Leistung und Selbstoptimierung geprägt ist, sondern von Nähe und Rücksichtnahme – aufeinander, aber vor allem auch auf sich selbst? Ein schöner Text, von dem aber – im Gegensatz zu anderen Werken von Tempest – nicht allzu viel hängen bleibt.

2021 • 138 Seiten • Suhrkamp • Bestellen

Jayrôme C. Robinet: Sonne in Scherben ★★★★☆

Enzo und Angèle sind ein glückliches Paar. Doch als sie beschliessen, ein gemeinsames Kind zu bekommen und es Enzo ist, der schwanger wird, ist nichts mehr wie vorher: Die Medien stürzen sich auf den schwangeren trans Mann – alles andere als wohlwollend. Auch Angèle wird zur Zielscheibe von Hass und Hetze. Und als das Schlimmste passiert, begeht sie eine unverzeihliche Verzweiflungstat …

Jayrôme C. Robinet porträtiert nicht nur seine Hauptfiguren – Enzo und Angèle – sehr gut, sondern auch ihr Umfeld, die Gesellschaft und das Rechtssystem, in dem sie leben. Gekonnt werden weitere Perspektiven mit einbezogen, seien es Elternteile, Medien oder Ärzt:innen. Ob die zusätzliche Plotline, die sehr spät im Buch startet und nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun hat, nötig ist, ist allerdings fraglich. Dennoch ist es ein Buch, das nachhallt.

2024 • 256 Seiten • Hanser • Bestellen

Behzad Karim Khani: Als wir Schwäne waren ★★★★☆

Bochum, 1990er Jahre, Plattenbau: Der 10-jährige Reza ist mit seinen Eltern aus dem Iran geflüchtet und hier gelandet. In der Wohnsiedlung bilden bereits Kinder Gangs – und in einer solchen wird auch er sich beweisen müssen, sei es durch Gewalt oder illegale Geschäfte. Als mittlerweile erwachsener Erzähler blickt er zurück auf diese ersten Jahre in einem fremden Land, dass seine neue Heimat werden soll – selbstkritisch und ungeschönt.

«Als wir Schwäne waren» wirkt trotz des chronologischen Aufbaus wie eine Aneinanderreihung von Anekdoten. Diese sind allerdings so sprachmächtig, dass sie einen sogartig in die Erzählung hineinziehen und sich ins Gedächtnis einbrennen. Ein eigentlicher, klarer Handlungsstrang wird nicht benötigt. Insgesamt ein gleichermassen berührendes, brutales und ehrliches Buch.

2024 • 192 Seiten • Hanser Berlin • Bestellen