von Cornelia Hüsser • 03.11.2024
Der Herbst ist klassischerweise dazu da, sich von der Masse an Neuerscheinungen überfordern zu lassen und möglichst viele davon zu inhalieren. Diesen Oktober stand aber unter anderem auch der erste Abend des ersten LäsiForums auf dem Plan. Wo der wilde Ritt in den Osten hingeführt hat – mehr dazu hier.
Jella hat in Yannick die grosse Liebe gefunden. Voller Idealismus tut sie alles, um ihm zu gefallen: Sie kleidet und schminkt sich, wie er es für angemessen hält, trifft nur noch Freunde, die er für akzeptabel hält und nimmt nicht mehr Raum ein, als er ihr zugesteht. Es dauert lange, bis sie merkt, dass sie in einer maximal toxischen Beziehung gefangen ist – so lange, bis es fast zu spät ist.
«Die schönste Version» erzählt von internalisierten gesellschaftlichen Erwartungen, toxischer Männlichkeit und häuslicher Gewalt. Ruth Maria Thomas schildert die Szenen ungeschönt und in einer derben Sprache. Und wirft mit Jellas schonungsloser Direktheit Fragen auf: Kann man sich nach seinem Täter trotzdem sehnen? Ist man deshalb ein schlechter Mensch? Und gibt es so etwas wie Mitschuld? Ein starkes Debüt, das die komplexe Thematik zugänglich darstellt.
2024 • 272 Seiten • Rowohlt • Bestellen
Arthur wächst im viktorianischen London in ärmsten Verhältnissen auf – und entdeckt im British Museum nicht nur seine Leidenschaft für mesopotamische Artefakte, sondern auch eine aussergewöhnliche Begabung. In der Gegenwart soll Narins ezidisches Heimatdorf einem Staudamm weichen; und die Hydrologin Zaleekah steht an einem Wendepunkt in ihrem Leben.
Elif Shafak verknüpft gekonnt nicht nur drei Schicksale miteinander, sondern auch mit dem aktuellen Zeitgeschehen. Kriege, Konflikte und der Klimawandel prägen die Leben der drei Figuren auf ganz unterschiedliche Weise. Ein erstklassig recherchierter und packender Roman.
2024 • 592 Seiten • Hanser • Bestellen
Es ist der Beginn des 20. Jahrhundert: Eine Schweizer Industriellenfamilie zieht ins aufblühende Bukarest, um dort ein standesgemässes Leben zu führen. Rund hundert Jahre später blickt der Enkel – der die Stadt nie gesehen hat – in die Vergangenheit. Er versucht, anhand von Fotografien, Drucken und Stadtplänen das Aufwachsen seiner Mutter zu rekonstruieren. Schliesslich wagt er eine Reise; doch vom Bukarest seiner Mutter scheint nichts mehr übrig zu sein.
Christian Haller verwebt gekonnt die Geschichte einer Familie mit der Geschichte Rumäniens. Zuerst durch Faschismus, dann durch Stalinismus zu Boden gewirtschaftet, ist das Land nur noch ein Schatten dessen, was es einmal war. Genauso geht es der Mutter des Erzählers, deren Erinnerungen zunehmend verblassen; und zuvor dem Grossvater, wirtschaftlich gescheitert und von der Familie verachtet. Ein intensiver Roman, der grosse Aufmerksamkeit fordert, aber auch zum Entdecken einlädt.
2001 • 304 Seiten • BTB • Bestellen
London, 2022: Die Queen ist tot. Durga ist gerade auf dem Weg zu einem Writer’s Room, um an einer entkolonialisierten Neuverfilmung von Agatha-Christie-Krimis zu arbeiten. Als sie sich plötzlich … 1906 wiederfindet. In einem Männerkörper. Inmitten indischer Revolutionäre.
In der Folge erlebt sie (bzw. Sanjeev, in dessen Körper sie nun steckt) hautnah mit, wie diese für die Unabhängigkeit Indiens kämpfen – und zwar keineswegs gewaltfrei wie Gandhi. Sie beginnt, ihre Überzeugungen, die sie aus bequemer zeitlicher Distanz getroffen hatte, zu hinterfragen.
«Antichristie» lebt vor allem von den Diskussionen, die seine Figuren führen. Das zieht sich hin und wieder ein wenig; dann aber lässt der Roman auch mysteriöse Verbrechen und deren detektivische Aufklärung nicht missen. Ein wilder Ritt, unterhaltsam, schlau und aufwändig recherchiert.
2024 • 544 Seiten • Hanser • Bestellen
In einer dystopischen Version Indiens hat sich eine neue Technologie durchgesetzt: ShrineTech. ShrineTech ermöglicht es den Menschen, zu einer massgeschneiderten, individuellen Gottheit ihrer Wahl zu beten. Als ein junger Schauspieler für die Marketingabteilung von ShrineTech zu arbeiten beginnt, findet er sich jedoch rasch zwischen Intrigen, Gehirnwäsche und einer sich schnell verändernden Gesellschaft wieder …
«Idolatry» lebt von einer guten Idee und ist clever konstruiert. Künstliche Intelligenz, der Einfluss von Medien und Grosskonzernen werden zwar thematisiert; schlussendlich liest sich die Geschichte aber mehr wie ein Thriller, in dessen Zentrum Grössenwahn und die Gier nach Macht stehen. Viel Neues erwartet einen also nicht, spannend zu lesen ist der Roman aber trotzdem.
2024 • 272 Seiten • Flame Tree • Bestellen (Englisch)