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Augenpulver #17: Bücher im November

von Cornelia Hüsser • 02.12.2024

Der zweite Abend des LäsiForums hat uns weniger in den Osten als vielmehr in die Schweiz entführt – eine Schweiz des Fremdseins. Warum das Kind in der Polenta kocht, wurde aber nicht abschliessend geklärt. Ebenso unklar bleibt, wo auf dem Grab vorne ist. Alles Weitere erfahrt ihr hier.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne ★★★★★

Wer sich fragt, wo denn nun vorne sei, ist bei diesem Buch richtig. Aber auch, wer sich fragt, wie es sein kann, dass man ausnahmslos beim Memory gegen einen Achtjährigen verliert, oder ob man im äussersten Notfall mit einem Reichsbürger Doppelkopf spielen sollte.

Die (mehr oder weniger lose zusammenhängenden) Erzählungen in Saša Stanišićs neuem Band sind gegenwärtig, ungekünstelt und clever. Seine Figuren kommen mal nachdenklich und verloren, dann wieder unglaublich witzig oder tiefsinnig daher. I feel you, Georg. In diesen Lebenswelten hätte ich durchaus noch länger verweilen können.

2024 • 256 Seiten • Luchterhand • Bestellen

Sally Rooney: Intermezzo ★★★★☆

Intermezzo handelt von zwei Brüdern, die sich mit ihren Beziehungen auseinandersetzen müssen: Peter, Anfang 30, führt deren zwei – mit der Studentin Naomi und seiner ersten Liebe Sylvia. Ivan, Anfang 20, ist gerade dabei, sich in die wesentlich ältere Margaret zu verlieben. Als ihr Vater stirbt, treibt es Peter wie auch Ivan zu diesen Frauen; doch die Trauerarbeit können sie ihnen nicht abnehmen.

Sally Rooney versteht es hervorragend, die Innenleben ihrer Figuren zu erforschen und ihre Beziehungen in all ihrer Komplexität darzustellen. Sie geht geschickt mit Perspektivwechseln um und webt subtil politische Themen ein. Ein toller Roman, von dem ich nicht gedacht hätte, dass er so fesselnd ist.

2024 • 496 Seiten • Claassen • Bestellen

Aglaja Veteranyi: Warum das Kind in der Polenta kocht ★★★★☆

Voller Hoffnung bricht eine rumänische Artistenfamilie in den 1960er Jahren in den Westen auf – doch ihr neues Leben ist geprägt von Fremdsein, Unsicherheit und Angst. Erzählt wird die Geschichte durch die hellwachen Augen der Tochter, die bei jedem Auftritt um das Leben ihrer Mutter – einer Trapezkünstlerin, die an den eigenen Haaren hängt – fürchtet. Um sie abzulenken, erzählt ihr ihre Schwester das Märchen vom Kind, das in der Polenta kocht. Erst nach und nach wird unter der kindlich-naiven Stimme das eigene Schicksal freigelegt, das geprägt ist von Missbrauch und Ausbeutung.

Aglaja Veteranyi gelingt es hervorragend, die Gefühls- und Gedankenwelt der kindlichen Erzählerin zu erfassen. Ihre Sprache ist witzig, auf den Punkt und auch mal bitterböse; dieser unbedarfte Ton lässt das Beschriebene umso schwerer wirken. Denn mit fortschreitendem Lesen wird die Erzählung zunehmend düster – und lässt einen schliesslich lange nicht mehr los.

1999 • ca. 180 Seiten • Penguin • Bestellen (Band mit weiteren Erzählungen)

Toni Morrison: Solomons Lied ★★★☆☆

«Solomons Lied» erzählt die Geschichte der Familie Dead: die in einer welkenden Ehe ausharrende Ruth, ihr Sohn Milkman, seine mysteriöse Tante Pilate und deren liebeskranke Tochter Hagar stehen im Zentrum des Romans. Als sich Milkman auf die Suche nach einem Familienschatz begibt, den sein Vater und seine Tante angeblich vor langer Zeit im Süden versteckt haben, werden alte Wunden aufgerissen.

Obwohl die Handlung aus Milkmans Sicht erzählt wird, befasst sich der Roman stark mit der Frage, was es bedeutet, eine Schwarze Frau in der damaligen (und auch heutigen) Welt zu sein. Die Frauenfiguren sind in traditionellen Rollen gefangen, von frauenfeindlichen Strukturen umgeben und haben nicht immer die Kraft, gegen diese Widrigkeiten anzukämpfen. Durch Ruth, Pilate, Hagar und den zwei Schwestern Milkmans wird so eine breite Palette an Erfahrungen geschildert. Ein wahnsinnig dichter Roman, der Aufmerksamkeit und Geduld fordert.

1977 • 352 Seiten • Rowohlt • Bestellen

Delphine de Vigan: Dankbarkeiten ★★★★☆

Michka, die stets ein unabhängiges Leben geführt hat, muss feststellen, dass sie nicht mehr allein zurechtkommt: Sie verliert Wörter. Die richtigen kommen ihr nicht mehr in den Sinn, sie ersetzt sich durch ähnlich klingende. Auch als sie in ein Seniorenheim zieht, ist sie sich ihres Verlusts ständig bewusst. In ihr keimt noch einmal ein alter Wunsch auf: das Ehepaar zu finden, das sie damals vor den Nationalsozialisten versteckt und beschützt hatte, und endlich ihre Dankbarkeit zeigen zu können.

Einfühlsam behandelt Delphine de Vigan in diesem schmalen Band Themen wie Einsamkeit, Alter, Freundschaft, Reue und verpasste Chancen. Selbst Michkas Aphasie, die unglaublich belastend sein muss, wirkt charmant. Leider bleiben die Nebenfiguren eher blass – dennoch ist «Dankbarkeiten» ein stimmiger und berührender Roman.

2019 • 176 Seiten • DuMont • Bestellen