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Augenpulver #19: Bücher im Januar

von Cornelia Hüsser • 31.01.2025

Der Januar starete mit einem Lieferdienst. Der hat allerdings nicht geklingelt, sondern uns mit einer Konsumdystopie bespasst. Noch mehr Dystopie gab es bei Jacqueline Harpman; ausserdem einen ganz realen Niedergang mit Tove Ditlevsen und das neuste Buch der neusten Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang.

Tom Hillenbrand: Lieferdienst ★★★☆☆

Du bestellst etwas online, der Lieferdienst bringt es – und zwar innert Minuten. Das Geschäft macht der, der die Ware am schnellsten aus dem 3D-Drucker jagt und sie als erster per Hoverboard-Kurier bei dir abliefert. Arkadi ist einer dieser sogenannten Bringer. Als er eines Tages mitansehen muss, wie ein Kollege abstürzt, gerät er in einen Strudel mysteriöser Ereignisse  – und die Chefetage interessiert sich plötzlich sehr für ihn …

«Lieferdienst» ist ein schmales Buch mit vielversprechendem Worldbuilding. Konsum und dessen Befriedigung werden ins Masslose gesteigert, die Ausbeutung von Arbeitskraft erreicht einen neuen Höhepunkt. Der Plot hingegen ist unterkomplex, die Auflösung wird hektisch abgehandelt. Es fühlt sich an, als hätte die Geschichte entweder weniger oder aber mehr Raum gebraucht. Als unterhaltsame Lektüre zum Abschalten ist das Buch aber bestens geeignet.

2024 • 192 Seiten • Kiepenheuer & Witsch • Bestellen

Jacqueline Harpman: I Who Have Never Known Men ★★★★★

Tief unter der Erde werden 40 Frauen in einem Bunker festgehalten und überwacht. Sie haben keinerlei Erinnerung daran, wie sie hierhergekommen sind. Die Erzählerin – die jüngste in der Gruppe, noch ein Mädchen – kann sich überhaupt nicht an ein Leben ausserhalb des Käfigs erinnern. Doch sie wird es sein, die den Frauen zur Flucht verhilft und voller Staunen in eine seltsame Welt eintritt.

«I Who Have Never Known Men» ist ein sehr ruhiges Buch, das sich auf das innere Erleben der Erzählerin fokussiert. Die Welt, in der es spielt, mutet dystopisch an, obwohl man nie etwas über Zeit und Ort erfährt. Und man wird auch nie dazu verführt, auf ein glückliches Ende zu hoffen – wie eine Spirale wiederholen sich Ereignisse, bis zur Abstumpfung. Eine eindrückliche introspektive Erzählung, aber nichts für Plot- und Wendungs-Bedürftige.

2019 • 208 Seiten • Random House • Bestellen (Englisch)

Tove Ditlevsen: Vilhelms Zimmer ★★★★☆

Die Dichterin Lise Mundus und ihr Mann, der Redakteur Vilhelm, pflegen eine intensive Hassliebe. Er missgönnt ihr ihren Erfolg hat wechselnde Geliebte; sie rächt sich aus der Psychiatrie heraus mit einer Annonce in Vilhelms Zeitung, mittels der sie einen neuen Mann sucht. So zieht Kurt in Vilhelms Zimmer ein, trägt Vilhelms Anzüge und leistet Vilhelms Sohn Gesellschaft. Eine trotzige Aktion und wunderbar passend.

Tove Ditlevsen erzählt multiperspektivisch und bezieht damit auch Nebenfiguren – wie die Haushälterin oder die Geliebte – mit ein. Lise und Vilhelm sind bereits aus dem Roman «Gesichter» bekannt; in diesem Buch jedoch geht es ungezähmter zu und her. Das Nachwort der Übersetzerin legt offen, dass die Autorin mit diesem letzten Roman nur noch habe schreiben wollen, worauf sie Lust habe – und das ist spürbar.

2024 • 206 Seiten • Aufbau Verlag • Bestellen

Han Kang: Unmöglicher Abschied ★★★★☆

Nach längerer Zeit ohne Kontakt wird Gyeongha von ihrer Freundin angeschrieben. Inseon liegt im Krankenhaus und hat eine dringende Bitte: Gyeongha soll zu ihr nach Hause fahren, um nach ihrem Vogel zu sehen. Als ein heftiger Wintersturm hereinbricht, wird die Reise zum Überlebenskampf – doch Gyeongha ahnt nicht, welche Geheimnisse auf der Insel noch begraben liegen.

Han Kang überlagert in ihrem neuen Roman mehrere Erzählstränge: die Vergangenheit der beiden Freundinnen, die Massaker in Südkorea von 1948 sowie Inseons Recherchen zur eigenen Familiengeschichte, die direkt damit zusammenhängt. Wie von der Autorin gewohnt fehlen auch übernatürliche Elemente nicht, sind hier aber dezent eingearbeitet; ganz im Gegensatz zu den sehr expliziten historischen Schilderungen, die verstören und einen an der Menschheit verzweifeln lassen. Ein gnadenloses, aber sehr beeindruckendes Buch.

2024 • 315 Seiten • Aufbau Verlag • Bestellen

Jon Fosse: Morgen und Abend ★★★☆☆

Johannes ist ein einfacher Mann, der ein einfaches Leben als Fischer führt. Als er eines Morgens aufwacht, scheint alles nicht ganz so wie sonst zu sein: der Kaffee und die Zigarette fad, der Körper leicht – und draussen trifft er seinen Freund Peter an, der eigentlich schon lange tot ist.

«Morgen und Abend» ist eine kleine, feine Erzählung über das Leben, Freundschaft, Liebe und Verlust. Trotz gewöhnungsbedürftiger (sprich: in weiten Teilen abwesender) Interpunktion liest sich das Buch recht flüssig, auch dank vieler Wiederholungen. Wer nach schöner, melancholischer Atmosphäre sucht, ist hier richtig.

2003 • 128 Seiten • Rowohlt • Bestellen