von Cornelia Hüsser • 02.09.2023
Trotz intensivem Festivalgang durfte auch im August der Konsum gedruckten, gebundenen oder geleimten Papiers nicht zu kurz kommen. Mit dabei: ein Klassiker, dessen Neuadaption, Langgedichte und Mundart-Kolumnen.
Bei Gluthitze haben uns MIDA, das Festival am Gleis und nicht zuletzt die Badenfahrt in die Metropolen des Aargaus gezogen. Das war zeitintensiv, aber im Zug lässt es sich eben auch gut lesen. Genauso in der Badi und am ausserkantonalen See. Hier also die literarischen Tipps (und nett gemeinten Warnungen) aus dem August.
Remington ist 64 Jahre alt, arbeitslos und hat noch keinen Tag in seinem Leben Sport getrieben. Nun verkündet er, einen Marathon laufen zu wollen. Serenata hingegen war immer in Bewegung, bis sie die Arthrose zur Untätigkeit verdammte. Der plötzliche Eifer ihres Mannes versetzt sie zunächst in Belustigung, wandelt sich dann in Besorgnis und weicht bald dem puren Entsetzen.
«Die Letzten werden die ersten sein» ist eine wunderbare Satire auf den Fitnesswahn unserer Zeit. Selbstoptimierung und -darstellung scheinen das höchste Ziel; das Umfeld wird ausgeblendet, insbesondere, wenn man dort nicht auf Anerkennung stösst. Lionel Shriver lotet ausserdem hervorragend die Probleme aus, die dadurch selbst in einer jahrzehntelangen Partnerschaft entstehen. Und jetzt ab ins Fitnesscenter!
2020/2022 • 432 Seiten • Piper • Bestellen
Hier muss zum Inhalt nicht viel gesagt werden: Der Student Victor Frankenstein ist besessen von der Idee, Totes wieder zum Leben zu erwecken. Zu diesem Zweck setzt er ein paar Leichenteile neu zusammen. Die resultierende Kreatur ist äusserst hässlich und darum einsam. Sie bittet Frankenstein um eine Gefährtin, doch der weigert sich und muss für seinen Gottkomplex bezahlen.
Der Roman ist thematisch interessant und zeitlos, aber sprachlich auch dick aufgetragen und Frankensteins Weinerlichkeit leider schwer auszuhalten. Ja, mit Leichenteilen spielt man nicht, wer hätte das gedacht. Die Lektüre war dennoch eine gute Vorbereitung für das nächste Buch.
1818/2023 • 304 Seiten • Anaconda • Bestellen
Der junge Arzt und trans Mann Ry verliebt sich in Victor Stein, einen führenden Experten für KI. Der frisch geschiedene Ron Lord investiert in eine neue Generation von Roboter-Sexdolls. In Arizona warten dutzende in Stickstoff eingefrorene Leichen darauf, wiederhergestellt zu werden.
Genauso zusammenhangslos wie diese Einführung fühlt sich leider der gesamte Roman von Jeanette Winterson an: ein wilder Haufen von Themen, die nicht richtig zusammenkommen wollen. Ein guter Drittel des Romans ist ausserdem die simple Nacherzählung von Mary Shelleys Frankenstein, siehe oben. Der Wikipedia-Limbo, in den ich abgetaucht bin (Ausgangspunkt hier), war wesentlich spannender.
2019/2021 • 400 Seiten • Kein & Aber • Bestellen
Die Zwillinge Stella und Desiree kommen in den 1950er Jahren in einem kleinen Ort in Louisiana zur Welt. Hier, in Mallard, ist eines auffällig: Die Kinder werden von Generation zu Generation hellhäutiger. Die Schwestern machen unterschiedliches daraus. Während Desiree den dunkelhäutigsten Mann heiratet, den sie finden kann, entscheidet sich Stella, einfach als Weisse zu leben.
«Die verschwindende Hälfte» ist mehr ein Gedankenexperiment als eine glaubhafte Familiengeschichte. Doch der Roman ist spannend erzählt und leuchtet Themen wie Rassismus, Identität, Klasse, gesellschaftliche Erwartungen und Stereotype aus. Nicht selten dachte ich dabei an Nella Larsens Passing – ebenfalls zu empfehlen.
2020 • 416 Seiten • Rowohlt • Bestellen
Ein Viertel in London, morgens um 4:18 Uhr. Sieben Menschen liegen wach. Sie kennen einander nicht, doch sie alle werden gequält von Sorgen, Ängsten und Erinnerungen. Wir zoomen von weit aussen heran und blicken hinein in ihre einsamen Seelen. Bis ein Sturm über die Stadt hereinbricht – und sie erkennen, wie tief sie miteinander verbunden sind.
«Let Them Eat Chaos» ist ein zutiefst berührendes Langgedicht, dass vieles kritisiert, was in der heutigen Welt falsch läuft – und dem Liebe gegenüberstellt. Eindringlich, klar und wie ein Faustschlag ins Herz.
2016/2018 • 154 Seiten • Suhrkamp • Bestellen
Die Götter von heute leben in London. Kevin und Jane, Mary und Brian, Thomas und Clive: Eheleute, Kinder, Halbbrüder. Sie erleben Liebe und Freundschaft, Betrug und Verrat. Sie machen Fehler und verzeihen.
Kae Tempest findet die alten Mythen im kleinen, prekären Leben wieder. Auch hier wird die Menschlichkeit der Übermacht der kapitalistischen Gesellschaft entgegengesetzt – in wuchtiger und eindringlicher Sprache.
2013/2017 • 112 Seiten • Suhrkamp • Bestellen
Ob toxische Mäuslichkeit, Pestizide oder eine vom Hubble-Teleskop verfolgte Kartoffel: Die Themen der gesammelten Kolumnen von Sarah Elena Müller sind so vielfältig wie abstrus. Publiziert zwischen 2018 und 2021, greift sie das aktuelle Geschehen auf und kommentiert es mit spitzer Mundart-Feder. Ein schöner Band zum Schneuggen.
2021 • 120 Seiten • Der gesunde Menschenversand • Bestellen