von Cornelia Hüsser • 01.03.2025
Wehe, wenn sie losgelassen: Mädchen, die zur Hippiezeit in einer Sekte landen; Freaks, die eine Rockband gründen; Tourismusbüros, die Bauernhöfe mit einem bis fünf Goldenen Küken auszeichnen. Der literarische Februar klärt ausserdem auf, was man abseits von zerbrochenem Geschirr unter «Scherben» noch versteht.
Nach dem Tod ihrer Grossmutter findet Carla in ihrem Nachlass zahlreiche Liebesbriefe, die ihr Grossvater im Jahr 1943 geschrieben hatte. Eigentlich sollte Carla an einer neuen Installation für die Hamburger Kunsthalle arbeiten; doch mit dem Lesen der Briefe öffnen sich ungeahnte Abgründe – spätestens, als sie bei ihrer Mutter zur Familiengeschichte nachhakt.
«Carlas Scherben» ist eine Art Generationenroman, der seine Einzelschicksale in einen grösseren Kontext einbettet. Der Autor schlägt den Bogen vom Zweiten Weltkrieg zu heutigen Migrationsbewegungen und der Schweizer Asylpolitik. Als Monolog der Protagonistin gehalten, werden insbesondere die auftretenden Männerfiguren zerpflückt und vom Sockel gestürzt. Leider bleibt der Spannungsbogen durch (zu) offensichtlich platzierte Hinweise insgesamt flach; sprachlich ist aber wiederum die eine oder andere Perle zu finden. So heisst es einmal über den Lover: «Klaus glüht nicht, er phosphoreszierte höchstens gelegentlich, ehe er in der kasachischen Ferne erlosch.»
2024 • 187 Seiten • Zytglogge Verlag • Bestellen
Als der beste Freund der Erzählerin stirbt, bekommt sie unverhofft dessen Hund vermacht: Eine riesige Dogge. Obwohl ihre Wohnung zu klein ist und sie eigentlich eine Haustiere halten darf, übernimmt sie Apollo, der wie sie selbst in tiefer Trauer ist.
Darum geht es zumindest, wenn man dem Klappentext glaubt. Vielmehr sinniert die Autorin jedoch kapitelweise über das Schreiben, das Schriftstellertum, die heutigen Studierenden und deren Empfindlichkeiten. Sie erzählt ein halbes Buch über einen anderen Hund nach. Sie zerpflückt die Ehen und beschönigt die Affären des Freundes. Und irgendwie will das alles nicht so richtig zusammenkommen – es fühlt sich als Gesamtes belanglos an.
2021 • 233 Seiten • atb • Bestellen
In einer amerikanischen Kleinstadt finden fünf Aussenseiter zusammen: Die nymphomanische 80-jährige Rockerin Opal, ihr Nachbarskind Ember, die heisse Rollstuhlfahrerin Aurora, der von Schuldgefühlen geplakte Iraker Ray und der ghettoerfahrene Misanthrop Luster. Nichts ist naheliegender, als eine Band zu gründen – und auf den grossen Durchbruch zu hoffen.
So sehr ich andere Bücher von Joey Goebel liebte (Vincent!): Das hier war ein Griff ins Klo. Die Charaktere sind komplett überzeichnet, Stereotype werden auf grenzwertige Art ausgeschlachtet. Die schlimmste Entscheidung war aber, «Freaks» als (deutschsprachiges) Hörbuch zu konsumieren. Warum liest hier einer, als wäre er eine KI-generierte Stimme? Und eine andere, als würde das Sedativum in der nächsten Minute kicken? Ich bin wirklich froh, bei diesem Autor nicht mit dem Debütroman gestartet zu haben.
2007 • 208 Seiten • Diogenes • Bestellen
Evie ist 14 Jahre alt. Die Eltern geschieden, die beste (und einzige) Freundin mit sich selbst beschäftigt, das Love Interest in anderen Händen – der Sommer dümpelt träge vor sich hin. Bis sie den Girls begegnet. Mit ihren langen Haaren und dem freien Lachen zieht vor allem Suzanne sie in ihren Bann. Evie geht also mit und findet sich auf einer heruntergekommenen Ranch wieder, wo ein Mann namens Russell gerne junge Mädchen um sich schart …
«The Girls» spielt mit Stimmungen: Heisse, träge Sommertage; die Hippiezeit, in der man die Kinder tun und lassen liess, was sie wollten; das Alter erwachender Lust und Unsicherheiten. Die Manson Family als Inspirationsquelle ist nicht von der Hand zu weisen. Mit seinen Charakterentwicklungen bleibt der Roman dennoch spannend und unterhält.
2018 • 352 Seiten • DTV • Bestellen
Über 30, unverheiratet und Angestellte in einem 24-Stunden-Supermarkt: Keiko ist nicht gerade das, was die Gesellschaft von einer Frau erwartet. Schon als Kind fiel ihr der Umgang mit Menschen schwer; im Konbini geben ihr die klaren Umgangsformen und Strukturen Halt. Bis ein neuer Mitarbeiter, der sich um Regeln nicht schert, ihr sorgfältig aufgebautes System ins Wanken bringt …
«Die Ladenhüterin» (was für ein schöner, zweideutiger Titel) hinterfragt gängige soziale Normen, die nicht nur in der japanischen Gesellschaft besonders ausgeprägt sind: Man kann sich ihnen zwar widersetzen, wird aber mit grosser Wahrscheinlichkeit darunter leiden. In schlichter, prägnanter Sprache schildert Murata das Erleben der Protagonistin – ohne eine klare Antwort darauf zu geben, wie stark man sich dem gesellschaftlichen Druck beugen soll, sondern vielmehr auf Einfühlungsvermögen und Verständnis pochend.
2019 • 145 Seiten • Aufbau • Bestellen
Südtirol in den 1940er Jahren: Nachdem ihr Mann eingezogen wurde, muss Rosa den Hof im abgelegenen Tiefenthal alleine durchbringen. Sie lernt, die Natur zu lesen und zu lenken – und schafft mit Geduld und Beharrlichkeit das scheinbar Unmögliche. Zwei Generationen später ist Rosas Enkel Hannes auf Gäste angewiesen, die High-End-Ferien auf dem Bauernhof machen wollen. Tourismus statt Knochenarbeit – doch einfacher ist es nicht gworden.
«Bergland» erzählt von insgesamt drei Generationen Südtiroler Bergbauern und dem technologischen und gesellschaftlichen Wandel von rund 80 Jahren. Ein interessanter Einblick gelingt Jarka Kubsova insbesondere in den heutigen Alpentourismus. Ihre Charaktere sind vielschichtig und wandelbar, Klischees umgeht sie spielend. Ein schöner, einnehmender Roman.
2023 • 288 Seiten • Goldmann • Bestellen
Trauma, triggern, toxisch: Begriffe, die heute inflationär verwendet werden. Während früher Phasen der Ineffizienz und emotionale Verletzungen zum Leben gehörten, wird heute alles mögliche pathologisiert – und die Diagnose stolz zum Influencer-Thema auf Social Media gemacht. Was hier überspitzt formuliert ist, analysiert die Soziologin Laura Wiesböck in ihrem Sachbuch «Digitale Diagnosen» fundiert. Es bietet einen spannenden Einblick in das gesellschaftliche Phänomen Mental Health und liefert eine gute Diskussionsgrundlage – inklusive Kapitalismus- und Patriarchatskritik.
2025 • 176 Seiten • Zsolnay • Bestellen