von Cornelia Hüsser • 31.03.2025
Der literarische März führte von der Schweiz nach Deutschland und Polen, in die Ukraine, nach Russland und Japan – und anschliessend direkt ins Weltall. Von oben betrachtet erscheinen irdische Konflikte, insbesondere um Grenzen, geradezu bizarr.
Dass sie äusserst real und zerstörerisch sind, zeigen aber Werke wie «Heimsuchung» über ein Jahrhundert deutscher Geschichte oder «Russische Spezialitäten», in dem sich der Angriffskrieg auf die Ukraine bis in die engste Familie hinein bohrt. Eine Reise Richtung Osten, geordnet nach Distanz.
«Inslä vom Glück» versammlet verschiedeni Einzeltexte vo de Spoken-Word-Künstlerin Stefanie Grob. Thematisch isch vo Alltagssituatione, Detailbeobachtige bis zu wüsseschaftliche Theme alles debi. Es wird analüsiert, wie en Flöige elegant ar Dili landet. Drüber brichtet, wie mer amene Hoigümper sini Hirnström gmässe het, währenddem er Star Wars het müesse luege. Oder en chline Rant abgloh, wie hochgradig kommodifiziert Chindergeburtstäg mittlerwiile vostatte göhnd. Alles mitere guete Prise Humor und Sarkasmus – super zum zwüschedrin chli schnoigge.
2014 • 168 Seiten • Der gesunde Menschenversand • Bestellen
Anhand eines Hauses am Scharmützelsee, östlich von Berlin, wird die Vergangenheit aufgefächert: Seine Bewohner erleben die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg, die DDR, die Wende und die Nachwendezeit. Sie stammen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, erleben Verfolgung und Flucht, Glück und Profit. Das Ergebnis: eine Art kollektives Gedächtnis deutscher Geschichte.
Jenny Erpenbeck fügt die kurzen Vignetten zu einer komplexen Erzählung des letzten Jahrhunderts zusammen. Elf Hauptfiguren aus verschiedenen historischen Epochen werden ergänzt von einer zwölften Figur, dem Gärtner, der als Konstante über die Wirren der Zeit hinweg wirkt. Obwohl eher kurz gehalten, verlangt der Text nach grosser Aufmerksamkeit, entfaltet sich dann aber mit voller Wucht.
2018 • 192 Seiten • Penguin • Bestellen
Im Sommer ist das Hochplateau an der polnisch-tschechischen Grenze recht belebt; den Winter über fliehen allerdings die meisten Menschen in die Stadt. Janina Duszejko allerdings bleibt, widmet sich der Übersetzung von WIlliam Blake und der Astrologie. Dann ereignet sich eine Reihe von Morden – und sie ist überzeugt, dass keine Menschen die Täter sind.
Schade, dass mein Einstieg in Tokarczuks Werk ausgerechnet ihr (bisher) einziger Krimi war. «Gesang der Fledermäuse» bietet keine überraschende Wendungen und lässt Spannung über lange Strecken vermissen. Stattdessen ergeht sich die Autorin in seitenlange Ergüsse über irgendwelche Sternkonstellationen, die mir schon früh verraten haben, wer der wahre Übeltäter ist. Man kann sicher ein paar gute Gedanken aus dem Text ziehen, alles in allem hat er mich aber nicht von den Socken gehauen.
2020 • 320 Seiten • Kampa • Bestellen
Eine Familie aus Kyjiw führt in Deutschland einen Laden für russische Spezialitäten: Wodka, Pelmeni, Matrjoschkas, alles, was ein osteuropäisches Zusammengehörigkeitsgefühl verschafft. Letzteres bröckelt allerdings seit dem russischen Überfall auf die Ukraine – auch innerhalb der Familie. Die Mutter glaubt der Propaganda Putins, der Sohn verzweifelt. Um sie aus der Lügenblase herauszuholen, reist er in die Ukraine. Mitten im Krieg.
«Russische Spezialitäten» ist ein kurzer, scharf beobachtender Text, der die innere Zerrissenheit seines Protagonisten sehr gut einfängt. Eine grosse Rolle spielt auch das Thema Sprache bzw. die Muttersprache Russisch, die, einst identitätsstiftend, zunehmend politisch vereinnahmt wird. Es gibt grossartige Wortspielereien und Sprachbilder zu entdecken – und insgesamt einen berührenden und beeindruckenden Roman.
2025 • 192 Seiten • Hanser Berlin • Bestellen
In der gottverlassenen Provinzstadt Ostrog ereignet sich eine Suizidserie von Heimkindern. Aufgrund der hohen Medienwirksamkeit soll sich Kommissar Koslow aus Moskau der Ermittlungen annehmen. Doch die örtliche Polizei hat ihre eigenen Theorien und verhaftet den Sonderling Petja – an dessen Schuld Koslow wiederum nicht glaubt.
Sasha Filipenko wirft einen kritischen Blick auf den Zustand der russischen Gesellschaft. In Ostrog herrschen Trost- und Perspektivlosigkeit, klimatische und menschliche Kälte vor. Aus diesem Gesichtspunkt lohnt sich der Roman. Als Krimi oder Thriller funktioniert die Geschichte hingegen weniger gut, es fehlt insgesamt an Spannung und sinnvollen Verknüpfungen.
2024 • 272 Seiten • Diogenes • Bestellen
Die Aussenseiterin Natsuki erlebt als Kind verbalen und physischen Missbrauch. Der einzige, der ihr glaub, ist ihr Cousin Yu, der sich ebenfalls nirgends zugehörig fühlt. Gemeinsam fassen sie einen Plan, sich gegen die Welt zu stellen – doch schon kurz darauf werden sie auseinandergerissen. Erst nach jahrelangen Bemühungen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, finden sie eine Möglichkeit, ausserhalb von ihr zu leben.
Beim Lesen von «Das Seidenraupenzimmer» habe ich die Zustände aww – eww – what – wtf – pls no – omg durchlaufen (in dieser Reihenfolge). Lasst euch gesagt sein: Es eskaliert. Wie schon in «Die Ladenhüterin» wird auch hier die Frage aufgeworfen, wer denn nun verrückt ist: die Protagonisten oder die Gesellschaft? Die Antwort, die dieser Roman liefert, dürfte nicht allen gefallen.
2021 • 253 Seiten • Aufbau • Bestellen
Vier Astronaut:innen und zwei Kosmonauten schweben in einer Raumstation durch das Weltall. Die Erde umkreisen sie 16-mal in 24 Stunden. Sie arbeiten, essen und schlafen alle auf engstem Raum; dennoch fühlt sich ihr Leben wie losgelöst von Zeit und Raum an.
«Umlaufbahnen» folgt den Gedanken, Erinnerungen und Gesprächen der Besatzung. Sie alle haben ein Leben auf der Erde, von dem sie noch gar nicht so lange weg sind, und doch fühlt es sich unendlich fern an. Einen wirklichen Plot gibt es hier nicht – alles dreht sich um den Blick von oben auf unseren Planeten, seine Schönheit und ja, auch unsere Zerstörung. Poetisch, meditativ und zum darin Versinken.
2024 • 224 Seiten • DTV • Bestellen