von Cornelia Hüsser • 01.06.2025
Im Mai fand der erste Global Book Crawl in der Schweiz statt. Das hiess: In den Zug steigen, durch den Norden des Landes gurken und viele neue Buchhandlungen entdecken. Und unterwegs das eine oder andere akquirierte Buch lesen.
Die 1960er Jahre in der niederländischen Provinz: Seit dem Tod ihrer Mutter lebt Isabel alleine im grossen Familienhaus – bis ihr Bruder seine neue Freundin Eva bei ihm einquartiert. Diese ist in Isabels Augen nicht nur vulgär; seit ihrem Auftauchen verschwinden auch plötzlich Dinge aus dem Haushalt. Trotzdem entwickelt sich eine unerwartete Anziehung zwischen den beiden Frauen – doch das ist nicht das einzige, das Isabels konservatives Weltbild von Grund auf erschüttert …
«In ihrem Haus» ist ein Spiel mit gesellschaftlichen Normen, Obsessionen, Geheimnissen und brutalen Wahrheiten. Die Wendung kommt überraschend und mit voller Wucht. Yael van der Wouden blickt hinter die Fassade scheinbar geordneter, bürgerlicher Leben und in lange verborgene Abgründe; ihre Figuren sind dabei nur allzu menschlich. Ein raffiniert konstruiertes und mitreissendes Buch.
2025 • 320 Seiten • Gutkind • Bestellen
Im Japan einer nahen Zukunft ist Empathie das höchste Gut – auch gegenüber Menschen, die früher als «Kriminelle» bezeichnet wurden. Die Architektin Sara Makina soll in Tokio den Bau eines Gefängnisturms realisieren, der seinen Bewohnern den höchsten Komfort bietet. Doch plötzlich überkommen sie Zweifel am Projekt, und sie bittet einen KI-Chatbot um Hilfe …
In «Tokyo Sympathy Tower» verhandelt die Autorin diverse Gegensätze: Arm und reich, jung und alt, erwünscht und unerwünscht. Sie sinniert über die Besonderheiten der japanischen Sprache und Schrift und natürlich über Architektur (insbesondere Zaha Hadids nie realisiertes Olympiastadion in Tokio). Das alles will aber durch die Lesenden frei assoziiert werden; die knapp 150 Seiten geben keine eindeutigen Antworten. Ebenso ein Rätsel bleibt, wie viel von diesem Text denn nun tatsächlich von einer KI verfasst wurde.
2025 • 160 Seiten • Hoffmann und Campe • Bestellen
Es ist ein gewöhnlicher Tag im Juni, an dem die Zeit zum Stillstehen kommt – oder vielmehr: die Menschheit. Ab diesem Tag stirbt niemand mehr, und es wird niemand mehr geboren. Alles andere nimmt seinen gewohnten Lauf, die Natur erblüht, trägt Früchte, verwelkt. Aber die Kranken und Alten sterben nicht mehr, Babys wachsen in den Bäuchen ihrer Mütter nicht mehr weiter, und wer seinem Leben gewaltvoll ein Ende setzen will, bleibt erfolglos.
Maja Lundes Gedankenexperiment führt uns dort hin, wo wir es erwarten. Sie erzählt von einer krebskranken Frau, die die neu geschenkte Zeit voll auskosten will; von einem Paar, das sein ungeborenes Kind endlich zur Welt bringen möchte; und natürlich von Verschwörungstheoretikern, die hinterfragen, wer von diesem Stillstand wirklich profitiert. Flüssig geschrieben, liest sich der Roman flott weg, bleibt insgesamt aber eher oberflächlich: Ja, der Tod ist notwendig, um das Leben zu schätzen.
2025 • 320 Seiten • BTB • Bestellen
Nachdem Yamilet von ihrer (bisher) besten Freundin ungewollt geoutet und dann abgeschossen wurde, wechselt sie zusammen mit ihrem Bruder Cesar auf eine katholische Schule. Hier sind die meisten Schüler*innen das komplette Gegenteil von ihr: reich, weiss und hetero. Sie ist also fortan damit beschäftigt, (a) Cesar aus Schwierigkeiten herauszuhalten und (b) sich auf keinen Fall zu verlieben. Wäre da nur nicht Bo, das einzige offen queere Mädchen an der Slayton …
«The Lesbiana’s Guide to Catholic School» ist ein unterhaltsamer Young-Adult-Roman, der neben Queerness und Homophobie auch die Themen Klasse und Rassismus einbringt. Allerdings verliert er über die Länge den Fokus, und allzu viel bleibt nicht hängen. Es gelingt dem Buch auch nicht gänzlich, Klischees zu umgehen, und ein, zwei Dinge entwickeln sich allzu unrealistisch. Insgesamt aber eine ganz cute Lektüre.
2025 • 400 Seiten • Karibu • Bestellen
Eine Anwaltskanzlei an der Wall Street bringt spezielle Charaktere als Kopisten juristischer Dokumente zusammen: Turkey, der nur vormittags vernünftig walten kann; Nippers, der unter akuten Verdauungsproblemen leidet; und ein Zwölfjähriger namens Ginger Nut. Eines Tages kommt Bartleby hinzu. Er schreibt mechanisch, arbeitet still und tadellos. Allerdings weigert er sich, irgendetwas anderes zu tun, als zu schreiben. Und plötzlich hört er auch damit auf.
Aus diesem Roman stammt der berühmte Satz «I would prefer not to» («Ich möchte lieber nicht») – eine äusserst höfliche Kommunikation der Arbeitsverweigerung. Auf wenigen Seiten werden die Motive gekonnt ins Groteske gesteigert, Bartleby entfremdet sich mehr und mehr von seiner Umwelt. Auch der Erzähler – der Inhaber der Kanzlei – macht einen Wandel durch, will Bartleby zunächst beeinflussen, dann verstehen, und zum Schluss retten. Eine interessante Geschichte, in der man sich vielleicht ab und zu selbst wiederfindet.
1853/2025 • 128 Seiten • Kampa • Bestellen