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Augenpulver #24: Bücher im Juni

von Cornelia Hüsser • 30.06.2025

Dieser Text wird auf einem Balkon bei kuscheligen 34 °C im Schatten getippt. Dazu passt die Juni-Lektüre von «Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft», in der Hitzewellen längst Normalzustand geworden sind. Zum Glück erfordert das Lesen nur minimalen Bewegungsaufwand – und es gab auch durchaus kühlende Lektüren.

Fiona Sironic: Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft ★★★☆☆

Es herrscht unerträgliche Hitze, die Wälder brennen, und eine Art nach der anderen verschwindet für immer von der Erdoberfläche. Die 15-jähige Era hält das Massensterben der Vögel fest. In einem Stream beobachtet sie ihre Mitschülerin Maja, wie sie mit ihrer Schwester Festplatten in die Luft jagt, um die eigenen Erinnerungen zu löschen; die beiden sind Kinder von Momfluencerinnen, die ihre glorreichen Tage hinter sich haben. Entgegen der zerstörerischen Gegenkräfte entsteht eine tiefe Zuneigung zwischen Era und Maja – doch es bleibt eine explosive Mischung …

Fiona Sironics Roman ist eine wilde Fahrt in eine gar nicht so abwegige Zukunft: Die Dezimierung der Arten ist gesetzt, und wie viele Kinder werden demnächst ihre Eltern hassen, weil sie sie im Internet vermarktet haben? Sicherheit und Kontrolle über das eigene Leben sind nur noch abstrakte Konstrukte, die Bewältigungsstrategien lauten Trauer oder Wut. Sprachlich kommt das Buch eher knapp und kühl daher, was ganz gut zum Rahmen passt. Die Autorin verknüpft die Handlungsstränge geschickt, allerdings bleiben die Charaktere selbst recht eindimensional – hier hätte noch mehr gehen können.

2025 • 208 Seiten • Ecco Verlag • Bestellen

Ariane Koch: Kranke Hunde ★★★★☆

Die Windhündin Poch ist ein Rennstar – bis sie eine Hirnerkrankung eines Tages einfach umkippen lässt. Im Hundespital gibt sie den Hundeärzten Rätsel auf. Doch dann taucht die Höllenkatz auf und bietet ihr einen Deal an: Schmerzlinderung gegen ein halbes Leben.

Das Theaterstück «Kranke Hunde» erzählt von einem kaputten Gesundheitswesen, in dem vor allem Zahlen zählen und jegliches Gefühl für die Patient*innen verlorengegangen ist. Poch findet sich hilflos und entmenschlicht (beziehungsweise enthundet?) wieder, ein dem System ausgelieferter Fall. Sprachlich kommt das mit Witz, teilweise aber auch ziemlich sperrig daher. In jedem Fall wirft es Fragen auf, die wir uns – nicht erst seit der Pandemie – stellen sollten.

2024 • 100 Seiten • Suhrkamp • Bestellen

Kim Eui-kyung: Hello Baby ★★★☆☆

Sechs Frauen lernen sich in einer Kinderwunschklinik in Seoul kennen. Sie tauschen sich in einem Gruppenchat namens «Hello Baby» aus; eine von ihnen hat die Behandlungen allerdings bereits vor einem Jahr aufgegeben. Doch nun meldet sie sich plötzlich wieder – mit der Nachricht, unverhofft doch plötzlich Mutter geworden zu sein …

«Hello Baby» erzählt in nüchterner Sprache und ohne emotionale Tiefe von den IVF-Behandlungen, die die Frauen über sich ergehen lassen. Darüber hinaus erfahren sie grossen Druck aus der (Schwieger-)Familie, einen (männlichen) Nachkommen zu gebären. Im Job sollen sie entweder die gewohnte Leistung erbringen oder es ganz sein lassen. Schlussendlich dreht sich alles darum, ihren Zweck als Frau in der Gesellschaft zu erfüllen: Mutter zu sein. Das Buch ist somit ein gutes Porträt einer misogynen, patriarchalen Gesellschaft – erzählt davon allerdings recht emotionslos.

2025 • 223 Seiten • Aufbau Verlag • Bestellen

Christian Kracht: Air ★★★★★

Paul, ein Schweizer Innendekorateur, lebt in einer kleinen Hafenstadt auf den Orkney-Inseln. Hier geht er einer recht profanen Erwerbsarbeit nach: Er richtet leerstehende Immobilien ein, damit potenzielle Käufer sich ein schönes Leben darin vorstellen können. Eines Tages erhält er eine Einladung von einem Designmagazin, das ihn schon immer inspiriert hat: Er soll in Norwegen für ein riesiges Data Center das perfekte Weiss finden. Als er dort ist, trifft eine Sonneneruption die Anlage. Die Lichter gehen aus – und Paul verschwindet.

Realität, Dimensionen und mögliche Parallelwelten stehen im Zentrum von «Air». Dabei bedient sich Kracht verschiedenster Genres – mal Dystopie, mal Fantasy, mal Science Fiction – und lässt viele Bezüge zu literarischen Vorlagen vermuten (McCarthy, LeGuin, Liu, …). Das Buch liest sich flott weg, ohne sprachlich simpel oder anspruchslos zu sein; im Gegenteil. Inhaltlich wird vieles der eigenen Interpretation überlassen. Gerade das macht aber die Lektüre (und die anschliessenden Gespräche darüber) so spannend.

2025 • 224 Seiten • Kiepenheuer & Witsch • Bestellen

Fleur Jaeggy: Proleterka ★★★★☆

Die 15-jährige Erzählerin unternimmt mit ihrem Vater – aus einer einst reichen, mittlerweile finanziell ruinierten Familie stammend – eine Kreuzfahrt nach Griechenland. Zwischen den beiden herrscht eine (der Mutter geschuldete) Distanz, jedoch keine Kälte. Die Tochter sinniert auf der Proleterka nicht nur über ihre Familie, sondern wendet sich auch den weitaus interessanteren Matrosen zu …

Einmal mehr seziert Fleur Jaeggy eine Jugend und nimmt dabei Klasse, Wohlstand sowie Geschlecht in den Fokus. Ihr Blick ist nüchtern, die Sprache ebenso. Insgesamt konnte mich «Proleterka» weniger packen als «Die seligen Jahre der Züchtigung», ist aber einiges zugänglicher als ihre Kurzgeschichten.

2024 • 111 Seiten • Suhrkamp • Bestellen