von Cornelia Hüsser • 01.10.2023
Was tut man im September, wenn man nicht gerade an einem der vielen Filmfestivals zwischen den Kinos hin- und herspaziert? Natürlich: Bücher lesen.
Das Fantoche und die Brugger Dokumentarfilmtage 2023 sind bereits wieder Geschichte. Wir haben uns massenhaft kurze und lange Filme reingezogen – zwischendurch aber auch immer mal wieder Zeit gefunden, die Nase in der Spätsommersonne in ein Buch zu stecken. Mit dabei diesen Monat: Computerspiele, Jeff Koons’ Tulpen und eine spontane Mordserie.
Zwei Männer verbringen den Sommer auf einer Insel vor der Küste Irlands. Der eine – Engländer – um das hiesige Leben in Gemälden festzuhalten, der andere – Franzose –, um eine im Sterben begriffene Sprache zu erforschen und zu konservieren. Beide haben klare Ansichten darüber, was es wert ist, bewahrt und geschützt zu werden. Doch die Inselbewohner teilen diese durchaus nicht immer. Derweil nehmen auf dem Festland die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten immer gewaltvollere Züge an …
«The Colony» ergründet auf kluge Weise die Mechanismen des Kolonialismus – und das auf europäischem Raum. Nicht nur setzen sich die Kolonialisten über den Willen der Einwohner hinweg und versuchen, ihnen «das Rechte» zu diktieren; sie tun dies auch noch, während sie im Radio täglich von Morden zwischen den verfeindeten Gruppen hören – eine direkte Folge des englischen Kolonialismus in Irland. Ein politisches und komplexes Buch, das den verursachten Schmerz spürbar macht und gleichzeitig zur Vertiefung des Themas anregt.
2022 • 384 Seiten • Faber & Faber • Bestellen (Englisch)
Erscheint in deutscher Übersetzung im Mai 2024 unter dem Titel «Das Habitat» • Vorbestellen
Ein Eliteinternat in Wien, Zukunftsaussichten wahlweise als Arzt, Anwalt oder CEO und ein Lehrer, der die Klasse führt wie ein Offizier im zweiten Weltkrieg: Was lässt sich hier lernen? Nicht viel. Das denkt sich zumindest Till, der sich zwar halbherzig um genügende Noten bemüht, eigentlich aber viel lieber Age Of Empires II zockt. Und das ziemlich erfolgreich: Ohne dass sein Umfeld etwas bemerkt, gehört er plötzlich zu den besten Spielern der Welt. Doch da gibt es noch etwas, was von den Erwachsenen als «das wahre Leben» bezeichnet wird.
Tonio Schachinger lässt einen mit viel Witz und Sarkasmus in die snobistische Welt der Eliteschulen eintauchen. Hier wird der Nachwuchs hingeschickt, um ihn möglichst hürdenlos in die vorinstallierte Laufbahn zu navigieren. Dass man mit Computerspielen Geld verdienen kann, ist undenkbar. Doch wie Age Of Empires ist auch diese Bildungsinstitution langsam in die Jahre gekommen, nicht alles läuft rund, und dann gilt es noch Freundschaften zu pflegen und sich zum ersten Mal zu verlieben. Ein toller Coming-of-Age-Roman.
2023 • 368 Seiten • Rowohlt • Bestellen
Frankfurt, Industriegebiet: Hier arbeitet Fansi im Klempnerbetrieb von Hieronymus Bosch. Gut läuft es schon lange nicht mehr, Tage ohne einen einzigen Kunden sind keine Seltenheit. Ein paar Hallen weiter arbeitet Fansis Freund Bashkim und schraubt Kunstwerke für Jeff Koons zusammen – Objekte ohne ersichtlichen Nutzen, von Arbeitern hergestellt, um in die Lichthöfe der Reichen einzuziehen. Und auch Fansi erliegt dem Glanz des Kunstbetriebs …
«Der gute König» ist ein Buch der Gegensätze. Es verhandelt Kunst und Kapitalismus, Akademiker und Arbeiterklasse; die Welten prallen auf zugleich sozialkritische und humoristische Weise aufeinander. Gipfel der Absurdität bildet ein Strauss aufgeblasener Tulpen, die Jeff Koons der Stadt Paris in Gedenken an den Terroranschlag auf Charlie Hebdo schenkt. Ein Buch mit Biss – ohne zynisch zu werden.
2023 • 240 Seiten • Hoffmann & Campe • Bestellen
Billie ist 14, als ihre Mutter stirbt. Sie bleibt alleine zurück: mit einer Wohnung in einer Hochhaussiedlung, ihrer kürzlich angereisten ungarischen Grossmutter und einem kleinen Bündel Geldscheine, das sie in einer Radioshow gewonnen hat. Billie beschliesst, nun endlich ihren Vater zu finden, über den ihre Mutter immer geschwiegen hat – und begibt sich auf einen waghalsigen Roadtrip.
«Paradise Garden» möchte gerne das neue «Hard Land» (Benedict Wells) sein, versagt aber auf ganzer Linie. Nicht nur sind die Charaktere flach und entbehren ihre Handlungen jeglicher Logik; auch führt die Autorin Motive ein, die später überhaupt keine Rolle mehr spielen oder gar vergessen gehen. Mal ehrlich, welche 14-jährige setzt sich zum zweiten Mal im Leben ans Steuer und cruist dann unbemerkt durch ganz Deutschland?
2023 • 352 Seiten • Diogenes • Bestellen
Thomas Piketty ist bekannt für seinen dicken Wälzer «Kapital und Ideologie». Dieses Buch ermöglicht nun einen kompakteren Zugang zum Thema der globalen Gerechtigkeit.
«Eine kurze Geschichte der Gleichheit» bietet trotz des (vergleichsweise) geringen Umfangs einen umfassenden Blick auf die historische Entstehung sozialer Ungleichheit und erklärt, wie und weshalb sie bestehen bleibt. Dazu präsentiert Piketty mögliche Lösungsansätze und erklärt, wie deren Mechanismen wirken. Ein gehaltvolles und interessantes Buch, das aber an manchen Stellen doch weiter hätte ausholen dürfen, um die Themen besser fassbar zu machen.
2022 • 264 Seiten • C. H. Beck • Bestellen
Hazal ist 17 und lebt in Berlin. Obwohl sie in Deutschland aufgewachsen ist, empfindet sie das Land nicht als Heimat; auch ihre aus der Türkei eingewanderten Eltern fühlen sich noch immer fremd. Echte Perspektiven glaubt Hazal hier nicht zu haben – und begeht darum Verbrechen, zunächst kleinere, dann ein grosses. Von der Flucht nach Istanbul verspricht sie sich, endlich Heimat zu finden.
Fatma Aydemir porträtiert eine Generation, die permanent auf Widerstand stösst: durch die Gesellschaft, die sie vorverurteilt und ungerecht behandelt, und durch die Familie, die sie mit ihren Forderungen einengt. Sie wählt dafür eine schonungslose Sprache, die nicht gerade arm an Fluchwörtern ist. Etwas weniger davon hätte es auch getan. Vielleicht bleibt aber gerade dadurch viel von der Wut, dem Frust und auch der Hilflosigkeit der Protagonistin im Gedächtnis hängen.
2017 • 272 Seiten • Hanser • Bestellen
Nadine und Manu haben beide jemanden umgebracht – beide aus dem Affekt. Kennenlernen werden sie sich allerdings erst auf der Flucht. Und gemeinsam beschliessen sie auch, nicht etwa unterzutauchen, sondern ihren neuen Status als Mörderinnen auf ganzer Linie auszukosten.
Der Roman «Baise-moi» erschien bereits 1999 und begründete damals den Ruhm Virginie Despentes’ als Skandalautorin. Und ja: Hier dreht sich alles um Sex, Drogen und Gewalt. Glaubt man dem Klappentext, geht es aber auch um eine «intensive Frauenfreundschaft». Geht klar – wenn man eine einwöchige killing spree, begleitet von massivem Alkoholmissbrauch, als Freundschaft bezeichnen möchte. Ist man ehrlich, geht es in diesem Buch aber vor allem darum, möglichst viele schockierende Szenen aneinanderzureihen. Echte Gesellschaftskritik – wie beispielsweise in der Subutex-Trilogie – findet hier nicht statt.
1999/2023 • 240 Seiten • Kiepenheuer & Witsch • Bestellen