von Cornelia Hüsser • 05.12.2023
Der literarische November startete mit Nachwehen aus dem Gruselmonat Oktober, wandte sich dann aber glücklicherweise zum Besseren. Eine Reise durch alte, neue und stehengebliebene Zeiten.
Der letzte Horror-Roman des Oktobers machte dieser Bezeichnung alle Ehre: Er war so zäh, dass er in den November hineingeschleppt werden musste. Dort wartete immerhin Licht am Ende Tunnels: neben einem aktuellen und einem sehr alten Roman aus Schweizer Feder gab es auch Ausflüge in die (vielleicht) Psychiatrie, ins Post-Brexit-England und in eine Zeitschleife hinein.
Vier Freunde betreten verbotenes Terrain, um auf Jagd zu gehen – und lassen sich, als sie vor einer grossen Elchherde stehen, zu einem Blutbad hinreissen. Zehn Jahre später werden sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Und einer nach dem anderen muss dafür bezahlen, was damals geschehen ist.
«The Only Good Indians» ist eine Revenge-Horror-Geschichte, in der nicht viel passiert – die es leider aber auch nicht schafft, irgendeine Art von Atmosphäre heraufzubeschwören. Der Schreibstil ist zäh, man durchschaut viel zu früh, was geschehen wird. Doch anstatt die Handlung voranzutreiben, bekommt man obendrauf noch seitenweise detaillierte Schilderungen von Basketballspielen. Ein gutes Buch, wenn man schnell einschlafen möchte.
2020 • 357 Seiten • Titan • Bestellen
Pinas Dorf ist von einer riesigen Hecke umgeben – so gross, dass sie sogar Touristen in den kleinen Ort lockt. Wer hingegen nicht mehr wächst, sind Pina und ihr Freund Lobo selbst. Und während die Dorfbewohner auf einen Wachstumsschub der Kinder warten, beobachtet Pinas Mutter in der fernen Arktis das Schmelzen der Gletscher …
Auch «Hinter der Hecke der Welt» ist ein Roman, in dem eigentlich nichts passiert. Gianna Molinari weiss den Gegensatz von Stillstand und unaufhaltsamem Fortschreiten aber in poetischer Sprache zu beschreiben. In vielen kleinen Zwischenkapiteln lässt sich zudem etwas über die arktische Flora und Fauna erfahren – ein perfektes Buch für Leute, die solche Dinge gerne vertiefen und sich in einen Wikipedia-Limbo ziehen lassen. (Ich habe bei der Anatomie von Heilbutten begonnen und bei Raoul Schrotts Tristan da Cunha aufgehört.)
2023 • 208 Seiten • Aufbau • Bestellen
Rita ist jung und orientierungslos: Weder weiss sie, wer sie sein, noch, wo sie hin möchte in ihrem Leben. Um das Chaos in Kopf und Herz zu ordnen, erfindet sie ihre eigenen Wahrheiten. Ihre Geschichten drehen sich meist um den älteren Jež, der wie sie im Ministerium arbeitet. Oder handelt es sich um eine ganz andere Art der Einrichtung?
Ana Marwan schafft es, über 220 Seiten hinweg die Zweifel an dem zu nähren, was man liest. Jeder Satz hat mehrere Bedeutungen, kann verschieden interpretiert werden – je nach dem, was man über Rita zu wissen glaubt. Die Handlung rückt dadurch in den Hintergrund, vielmehr geht es um den Einsatz von Sprache. Leider verleitet der Text schnell dazu, abzudriften und nach wenigen Absätzen komplett den Faden zu verlieren. Konzentration ist gefragt – und der Wille, Fragen offen zu lassen.
2023 • 220 Seiten • Otto Müller Verlag • Bestellen
Anna ist Lehrerin und möchte die Welt zu einem besseren Ort machen – noch immer, wie damals, als sie sich als Teil einer Aktivistengruppe gegen die britische Regierung auflehnte. Was sie damals noch nicht wusste: eines der Mitglieder war ein Spitzel. Bis heute hat der Verrat Einfluss auf ihr Leben, und das Böse scheint überall zu lauern.
«Als lebten wir in einem barmherzigen Land» erzählt auf zwei Zeitebenen, was Anna widerfahren ist beziehungsweise widerfährt: von den «Stilzchen», die der Arbeiterklasse das Leben schwer machen – auch jetzt, nach dem Brexit und während der Corona-Pandemie. Es bleibt jedoch unklar, wie glaubhaft die Erzählerin ist, und die gewundenen Darstellungen lassen jede kurz aufkeimende Spannung wieder verkümmern. Fazit: interessante Themen, sprachlich toll, aber zäh wie die britische Politik.
2023 • 464 Seiten • Hanser • Bestellen
Tara ist nun schon ein ganzes Jahr im 18. November gefangen; ein Jahr geprägt von trübem Wetter, Regen und der Aussichtslosigkeit, je in ihr altes Leben zurückkehren zu können. Sie beginnt, sich nach Jahreszeiten zu sehnen. Um diese zu rekonstruieren, macht sie sich auf die Reise durch den Raum, findet Winter in Skandinavien und Sommer in Südfrankreich – und schreibt ein Tagebuch, das ein ganzes Jahr in einem einzigen Datum kondensiert.
Während Band I die Mechanik der Zeitschleife zu ergründen versuchte, tut die Protagonistin in Band II endlich das, was ich mir gewünscht habe: die endlose Zeit zum Reisen nutzen. Doch auch dieses Projekt wird stets von einer leisen Verzweiflung begleitet; womöglich vermisst man gar nicht die Jahreszeiten an sich, sondern das, was man in ihnen erlebt hat. Das Gedankenexperiment wird geschickt fortgeführt – und endet mit einem Cliffhanger, der Vorfreude auf den nächsten Band macht.
2020/2023 • 191 Seiten • Matthes + Seitz • Bestellen
Aline, eine junge Frau aus armen Verhältnissen, verliebt sich in den Sohn des Bürgermeisters – und er sich scheinbar auch in sie. Einen Sommer lang geniesst sie ihre erste Liebe und trotzt dem Gerede im Dorf. Doch als sie schwanger wird, stiehlt sich Julien davon. Während seine Eltern eine standesgemässere Braut für ihn suchen, nimmt Alines Tragödie ihren Lauf …
«Aline» ist eine einfache, kleine Geschichte, die ohne grosse Sentimentalität erzählt wird. C. F. Ramuz konzentriert sich auf die weibliche Perspektive – nicht nur Alines, sondern auch jene ihrer Mutter oder der Hebamme. Seine Schilderungen sind nichts Ungewöhnliches, aber für die Entstehungszeit ziemlich direkt – ohne jedoch unsensibel zu wirken. Ein Band, der von seiner Erzählweise lebt.
1905/2019 • 160 Seiten • Limmat • Bestellen