von Cornelia Hüsser • 04.02.2024
Schon der Jahresbeginn hielt eine Neuerscheinung bereit, der die Buchhandlungen der Welt glücklich machen wird: Haruki Murakamis neues Buch «Die Stadt und ihre ungewisse Mauer» steht nicht nur hierzulande auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Vorbereitend wurde noch mehr magischer Realismus konsumiert.
Den Verweis zu Gabriel García Márquez macht Murakami nämlich direkt selbst; und auch Toshikazu Kawaguchi bindet phantastische Elemente ins alltägliche Leben ein, wenn auch sehr viel simpler. Dazwischen gab es literarische Ausflüge in die bittere Gegenwart Grönlands, ins Leben einer chassidischen Pornosüchtigen und nach Südafrika während und nach der Apartheid. Viel Spass beim Stöbern.
Mitten im karibischen Urwald gründet José Arcadio Buendías das Dorf Macondo. Zunächst kaum erreichbar und fernab jeglicher Zivilisation, wird es über die Generationen zu einem belebten Ort und zum Schauplatz geheimnisvoller Ereignisse. Es erfährt Kriege, eine wirtschaftliche Blütezeit und schliesslich auch seinen Niedergang – und stets sind die Nachfahren Buendías’ Zeugen.
«Hundert Jahre Einsamkeit» steht in der Tradition des magischen Realismus und beschäftigt sich mit Themen wie Isolation, Liebe, Familie und Elitismus. Es ist eine Metapher auf die Geschichte Lateinamerikas (Kolonisierung, Kriege, Bananenplantagen), funktioniert aber auch als komplexer Familienepos, in dem sich die Geschichte in einem veränderten Umfeld stetig wiederholt. Dies manifestiert sich insbesondere in der zweifelhaften Neigung der Familienmitglieder zum Inzest und dazu, sämtliche Söhne (José) Arcadio oder Aureliano zu nennen. Es empfiehlt sich, ab und zu einen unterstützenden Blick auf den Stammbaum zu werfen. Die Arbeit lohnt sich.
1967/2017 • 528 Seiten • Kiepenheuer & Witsch • Bestellen
Grönland hat eine der weltweit höchsten Suizidraten. Dieser Umstand wird für die namenlose Protagonistin immer spürbarer. Als sie für ihr Studium nach Dänemark zieht, erfährt sie Diskriminierung und Vorurteile am eigenen Leib; sie findet keinen Anschluss, hinterfragt ihr kulturelles Erbe und sehnt sich zugleich in die gewohnte Umgebung zurück. Doch dort droht ihre Beziehung in die Brüche zu gehen …
«Das Tal der Blumen» schildert die bedrückende Stimmung unter jungen Grönländer:innen, die sich beinahe im Wochentakt mit neuen Suizidmeldungen in den sozialen Medien konfrontiert sehen. Das Buch nimmt allerdings einige absurde Abzweigungen, die wohl effektvoll sein sollen, aber dem Thema nicht gerecht werden. Die grobe, direkte Sprache ist ebenfalls Geschmackssache, spiegelt aber scheinbar die üblichen Umgangsformen. Auf jeden Fall ein Buch, das man nicht so schnell vergisst.
2023 • 288 Seiten • BTB • Bestellen
Obwohl es für chassidische Frauen unüblich ist, darf Raizl am College Buchhaltung studieren. Zu diesem Zweck erhält sie sogar einen Laptop. Und genau das wird ihr zum Verhängnis – denn mit dem Gerät lassen sich nicht nur Hausarbeiten schreiben, sondern auch die Untiefen des Internets erkunden. Kurz: Sie wird pornosüchtig. Und das, lange bevor die Heiratsvermittlerin den passenden Mann für sie gefunden hat …
Für ihren Roman wählt Felicia Berliner einen humorvollen und versöhnlichen Ansatz. Die Religion fungiert hier nicht als unterdrückender Antagonist, sondern als Heimat – was Raizl in einen ehrlichen Zwist bringt, denn sie will heiraten und ein traditionelles Leben führen. Aber sie will sich eben auch ausprobieren – und tut es auch, soweit sie es mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren kann. Das führt zu lustigen und berührenden Situationen, in denen man immer wieder mit Raizl mitfühlt; egal, wie gross die kulturelle Distanz sein mag.
2022/2023 • 368 Seiten • Hoffmann & Campe • Bestellen
In einer unscheinbaren Strasse in Tokyo befindet sich ein Café, in dem man zeitreisen kann. Allerdings nur so lange, wie der Kaffee noch warm ist; wer nicht rechtzeitig austrinkt, kann nicht mehr zurückkehren. (Und dann gibt es noch ein paar weitere Regeln.)
Der erste Band der Reihe von Toshikazu Kawaguchi serviert uns vier Geschichten über vier Menschen, die in der Vergangenheit etwas Bestimmtes suchen und ihre Hoffnungen in diese eine Reise setzen. Hier wird also nicht mit Science Fiction, sondern eher mit magischem Realismus hantiert. Eine nette Feel-Good-Lektüre, allerdings ohne wirkliche Tiefe. Und den letzten Twist riecht man leider schon von Weitem.
2015/2022 • 240 Seiten • Knaur • Bestellen
«Das Versprechen» erzählt vom Zerfall einer weissen südafrikanischen Familie. Es beginnt mit dem Tod der Mutter, die ihrem Mann kurz zuvor ein Versprechen abnimmt, das er nicht halten wird – zum Missfallen der jüngsten Tochter. Das Ganze geht einher mit der Entwicklung des Landes vom Apartheid- zum Demokratiestaat; doch egal, wie günstig die Gegebenheiten scheinen: das Versprechen ist und bleibt uneingelöst.
Damon Galgut schildert den Fall weisser Farmbesitzer und spiegelt darin die Geschichte Südafrikas. Geschickt wird beides miteinander verwoben; die einst privilegierten Figuren schaffen es nicht, mit den politischen Entwicklungen Fuss zu halten, ja nicht einmal sie angemessen zu reflektieren. Mühe macht der häufige Wechsel der Erzählstimme und -perspektive, manchmal mitten im Absatz. Dennoch eine sehr interessante Lektüre.
2021 • 368 Seiten • Luchterhand • Bestellen
Eine ummauerte Stadt, die nur betreten kann, wer seinen Schatten zurücklässt: Hier vermutet der namenlose Erzähler das Mädchen, in das er sich mit 17 Jahren verliebt hat. Obwohl inzwischen nicht mehr jung, lässt ihn die Geschichte um die geheimnisvolle Stadt nicht los – und er beschliesst, hineinzugelangen.
Einmal mehr lässt Murakami in seinem neuen Roman die Realität ins Wanken geraten. Welches ist die «echte» Welt, und wodurch definiert sich «echt»? Was hat es mit den zurückgebliebenen Schatten und der sich stets verschiebenden Mauer auf sich? Parallelwelten, Jazz, Katzen und Bücher: «Die Stadt und ihre ungewisse Mauer» lässt kaum eines der typischen Motive aus. Das murakamischste Murakami-Buch seit Langem.
2024 • 640 Seiten • DuMont • Bestellen
In einem prachtvollen Anwesen am See leben die Frauen einer Familie zusammen – ohne die Männer, die einmal Teil davon gewesen sein mussten. Nach dem Tod der enigmatischen Grossmutter brechen jedoch die Gräben zwischen Müttern, Töchtern und Schwestern auf. Eine Geschichte von Schweigen, Unterdrückung und Verrat bahnt sich ihren Weg ans Licht.
Was zunächst nach einer düsteren und packenden Prämisse klingt, wird von der Autorin nur sehr oberflächlich ausgearbeitet. Die Geschichte lässt viele lose Enden zurück, die nicht schlüssig zusammengeführt werden. Es entsteht lediglich ein vages Bild von Ereignissen und Verbindungen, während der Rest der Fantasie der Leserin überlassen wird. Das gibt leider zu wenig her.
2023 • 208 Seiten • Hanser Berlin • Bestellen
Es gibt Fakten, über die sich nicht diskutieren lässt – zum Beispiel, dass Zweifel Paprika die besten Chips sind, die es gibt. In der Schweiz, auf der Welt und im weiten Universum. Dem Hersteller dieses niemals übertreffbaren Snacks ist der zweite Band der «Aargauer Industriegeschichten», herausgegeben vom Museum Aargau, gewidmet.
Ursprünglich stellte Zweifel Most her – in Zürich-Höngg. Anhand von Schriftverkehr, alter Marketingkampagnen und Interviews erforscht Ruth Wiederkehr, wie das Familienunternehmen Chips in der Schweiz etablierte und schliesslich nach Spreitenbach zog, wo es viel Platz und wenig bürokratische Hürden gab. Der Band ist reich bebildert und bietet einen schönen Einblick in die Firmengeschichte – sowie einen kleinen Ausblick auf künftige Pläne. Wer Zweifel übrigens auch so fest liebt wie ich, sollte unbedingt einmal eine Führung durch die Produktion machen.
2023 • 144 Seiten • NZZ Libro • Bestellen