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Augenpulver #8: Bücher im Februar

von Cornelia Hüsser • 03.03.2024

Der literarische Februar hielt Autofiktionales, Dystopisches und Feministisches bereit. Und Zauberhaftes.

Zum Monatsabschluss wurden die gewohnten Genre-Pfade niedergetrampelt und verlassen. Der Ritt führte durch einen gefährlichen Wald in ein Land, in dem Milch und Honig fliessen und Feen das Volk regieren. Ja, ich bin jetzt im Fantasy-Game angekommen. Viel Spass. ✨

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter ★★★★☆

Hunsrück, es sind die 1980er Jahre: Ela wächst als Kind einer Mittelschichtfamilie auf. Die Mutter arbeitet als Fremdsprachensekretärin und ist übergewichtig; dies nimmt ihr Mann konstant zum Anlass, sie verbal zu erniedrigen. Selber kommt er aus noch schlechteren Verhältnissen, will um jeden Preis sozial aufsteigen und gibt seiner Frau die Schuld, dass er es nicht schafft. Sie sei nicht vorzeigbar, solle sich lieber um die Kinder kümmern statt Sprachkurse zu besuchen, usw. – die Anschuldigungen nehmen kein Ende, ganz egal, was die Mutter alles leistet und wie viele Diäten sie macht.

Der Roman porträtiert die Minderwertigkeitskomplexe und den Klassenneid eines Mannes – und zeigt damit die Mechanismen des Patriarchats auf, wie es den Männern selbst schadet. Der Vater kann sich nicht eingestehen, dass strukturelle Ungleichheit der Grund dafür ist, dass er den sozialen Aufstieg nicht schafft; also sucht er sich das einfachste Opfer. Eine authentische, leicht zu lesende Autofiktions-Dorfroman-Melange.

2022 • 448 Seiten • Kiepenheuer & Witsch • Bestellen

Marjane Satrapi: Frau Leben Freiheit ★★★☆☆

Im September 2022 stirbt Jina Amini an den Folgen der Schläge, die ihr die Sittenpolizei zufügt, weil sie ihren Schleier nicht «richtig» getragen habe. Ihr Tod löst eine beispiellose Protestwelle im ganzen Land aus. Was bedeutet es, im heutigen Iran jung zu sein?

Dieser Frage geht Marjane Satrapi zusammen mit Politologen, Historikern, Reportern und verschiedenen Comiczeichner:innen auf den Grund. «Frau Leben Freiheit» versammelt illustrierte Sachtexte, Eindrücke und kurze Episoden aus dem iranischen Alltag – aus der Perspektive von jungen Menschen und insbesondere Frauen. Die Perspektiven hätten noch vielfältiger sein dürfen; im Grossen und Ganzen sind die Themen aber gut gewählt und stimmen nicht selten sogar hoffnungsvoll.

2023 • 272 Seiten • Rowohlt • Bestellen

Sophie Passmann: Komplett Gänsehaut ★★★☆☆

Sophie Passmann ist Ende Zwanzig und teilt in «Komplett Gänsehaut» gegen ebendiese Kohorte – Millennials – aus. Beziehungsweise gegen das, was wir alle meinen, tun zu müssen: Freunde in die neue Altbauwohnung einladen und dabei eifrig im Risotto rühren, sich mit Wein auskennen, die Matratze auf Europaletten parken und die Fotos vom letzten Thailand-Trip einfach mal nicht bei Facebook posten. Aber natürlich ausführlich darüber sprechen.

Davon fühle ich mich zunächst maximal angesprochen und entsprechend gut unterhalten. Passmann ist eine ausgezeichnete Beobachterin und kennt keine Scham, ihre Beobachtungen auszuformulieren. Allerdings muss man sagen, dass sich der Witz nach 50, 60 Seiten auserzählt hat; der Rest ist ein grosser Rant. Zwar kein unberechtigter, aber doch auf der anstrengenden Seite.

2021 • 176 Seiten • Kiepenheuer & Witsch • Bestellen

Elias Hirschl: Content ★★☆☆☆

Die Erzählerin in Elias Hirschls neuem Roman arbeitet bei einer Content-Farm und produziert die allseits beliebten, sinnentleerten Listicles. Ihre Mitarbeiterinnen schrotten für Video-Content derweil alte Nokias auf jede erdenkliche Weise, und ihr Freund gründet ein Start-up nach dem anderen. Dass die Welt unter ihren Füssen im wahrsten Sinne des Wortes zusammenzubrechen droht, blenden sie gekonnt aus …

«Content» liest sich wie eine ziemlich exakte Mischung aus «Dieser Beitrag wurde entfernt» (Hanna Bervoets) und «Das flüssige Land» (Raphaela Edelbauer); leider in beiden Fällen als schlechtere Version davon. Die Handlung fühlt sich unausgegoren an und ein bisschen so, als wäre sie selbst von einem Bot generiert worden. Das mag Absicht sein. Schön sind dafür die Beobachtungen von Internetphänomenen, deren Absurdität tatsächlich keine Grenzen kennt. Ich sage nur: Is it cake?

2024 • 224 Seiten • Zsolnay • Bestellen

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts ★★★★★

Eine Frau will ihren Mann verlassen – nach 30 Jahren Ehe. Sie ist entschlossen und bestürzt zugleich: Wie konnte es soweit kommen? In Gedanken reist sie zurück in die Veragangenheit: zu ihrer ersten Begegnung, dem Anfang ihrer Beziehung, den Reisen, die sie zusammen unternommen haben, den ersten Jahren mit den gemeinsamen Kindern. Momente, die bereits ein Wendepunkt hätten sein können – aber überdauert wurden.

Julia Schoch legt mit grosser Empathie frei, was dem Blick von aussen verborgen bleibt. Sie dringt unter die Oberfläche des Alltags und der Routinen ihrer Figuren, hebt Hoffnungs- und Schmerzvolles hervor. Das gelingt ihr in unaufgeregtem Ton und frei von Kitsch. Realistisch, deprimierend, schön.

2023 • 192 Seiten • DTV • Bestellen

Fanny Desarzens: Berghütte ★★★☆☆

Drei Freunde treffen sich jeden Sommer in den Bergen: Paul betreibt eine Hütte, Jonas und Galel sind Bergführer und rasten mit ihren Gruppen bei ihm. Hier oben sind sie in ihrem Element, das Tal lassen sie bis zum nächsten Winter hinter sich. Doch eines Tages verschiebt sich etwas in ihrem gewohnten Gefüge – Galel ist nicht mehr derselbe.

Der schmale Roman umfasst eine Handlung von mehreren Jahren und ausführliche Beschreibungen der Bergwelt. Nicht gerade meine Comfort Zone. Auch die Figuren wirken zunächst unnahbar; doch spätestens mit dem Wendepunkt treten Unsicherheit und Fragilität zutage, die sie glaubhaft machen. Ein schönes Debüt, schmerzvoll, aber auch schön.

2023 • 144 Seiten • Atlantis • Bestellen

Und jetzt kommts …

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Sarah J. Maas: A Court of Thorns and Roses ★★★☆☆

Weil sie eine magische Kreatur getötet hat, wird Feyre in das legendenumrankte Land nördlich ihrer Heimat verschleppt. Bald stellt sie fest, dass die dort lebenden «Bestien» in Wahrheit unsterbliche (mächtige, wahnsinnig attraktive) Feen sind, die einst auch ihre Welt beherrschten. Feyres Feindseligkeit wandelt sich rasch zu blinder Leidenschaft für ihren Entführer; und so merkt sie nicht, dass sie in eine uralte Fehde verstrickt wurde …

Ja, alle Schaltjahre greife ich wieder mal zu einem Fantasy-Roman. Es war weniger schlimm als erwartet. Das Worldbuilding ist kreativ und das erzählerische Konstrukt einigermassen stabil (sofern man das Buch zu Ende liest; trust me). Es gibt Blut, Intrigen und Mensch-Feen-Sex. So einiges dürfte zwar etwas subtiler verpackt daherkommen, aber insgesamt ist die Sache ganz lesbar und unterhaltsam.

2020 • 448 Seiten • Bloomsbury • Bestellen