C. F. Ramuz: Sturz in die Sonne

von Cornelia Hüsser • 01.06.2023

Verlag: Limmat
192 Seiten, Hardcover
Erscheinungstermin: Mai 2023
ISBN: 978-3-03926-055-3

Über hundert Jahre nach seiner Entstehung wurde der Roman «Présence de la mort» von Charles Ferdinand Ramuz erstmals ins Deutsche übersetzt. Entstanden in Erinnerung an den Hitzesommer von 1921, könnte man «Sturz in die Sonne» heute auch als Klimadystopie lesen.

Dass man mit einer solchen Interpretation massiv falschliegt, wird allerdings gleich im ersten Kapitel deutlich. Ein Unfall im Gravitationssystem ist die Ursache für die grosse Hitze, die die Menschen im Roman plagt; die Erde ist dabei, zurück in die Sonne zu stürzen. «Alles Leben wird enden», so lautet die Botschaft. Die steigenden Temperaturen werden jede Existenz auf dem Planeten auslöschen. Doch noch ist alles ruhig.

Nur diese derart grossen Sterne, derart weiss, dass sie den Himmel ganz schwarz machten.

C. F. Ramuz entfaltet im Folgenden düsteres Gedankenexperiment darüber, wie sich der Mensch im Angesicht seines sicheren Todes verhält. Und nicht nur des eigenen Todes – denn dem Untergang der Welt entkommt niemand; egal, ob arm oder reich, fleissig oder faul, politisch oder nicht. Doch wie umgehen mit einer Gefahr, die – zumindest noch – unsichtbar ist?

Die Antwort liefern zahlreiche kurze Vignetten, die die Gedanken verschiedener Figuren wiedergeben. Ramuz konzentriert sich dabei vor allem auf die «kleinen Leute», die weiter ihren Alltag bestreiten, während sie mit ihrem Schicksal hadern. Angesiedelt in der Genferseeregion bekommt man einen Eindruck davon, was die Folgen der steigenden Hitze bedeuten: die Bäche leeren sich, der See – als letzter kühler Rückzugsort – ist voller Algen, die Sonne brennt erbarmungslos am weissen Himmel. Nur die Weinbauern freut’s: eine gute letzte Lese. Ansonsten herrscht vor allem Ungläubigkeit vor, dann Trauer und schliesslich Wut.

Das ist nicht für uns, es ist zu gross.

Gezielt lotet Ramuz die menschliche Psyche im Extremfall aus. Er tut dies in präziser, ungekünstelter Sprache, nahe am Gesprochenen; für die Entstehungszeit eine ungewöhnliche und damals nicht nur wohlwollend aufgenommene Strategie, dafür aber heute angenehm lesbar. Er spielt mit Wiederholungen, verschiedenen Zeitformen und dem Sprachrhythmus, was dem Text – trotz seines grausamen Inhalts – einen poetischen Klang verleiht.

«Sturz in die Sonne» als düstere Klimaprophezeiung zu verkaufen, mag ein schlauer Marketing-Move sein, und ja: einige der Beschreibungen lassen uns an die vergangenen Sommer denken, die viel zu heiss und zu trocken waren. Doch Ramuz konnte noch nichts von der globalen Erwärmung ahnen, und sein Buch ist viel mehr als nur die Idee einer dystopischen Zukunft. Es ist eine Erkundung der menschlichen Psyche und der Bewältigungsstrategien, zu denen wir fähig sind – im besten und im schlechtesten Sinne.