Léa Murawiec: Die grosse Leere

von Michael Bohli • 04.05.2023

Verlag: Edition Moderne
208 Seiten · Hardcover
Erscheinungstermin: 07.03.2023
ISBN: 978-3-03731-248-3

Mit ihrer ersten Graphic Novel lässt uns Léa Murawiec in «Die grosse Leere» fallen. Ein grafisch umwerfend ausgeführtes Buch, das sich satirisch und direkt mit den herrschenden Zwängen zu Selbstdarstellung und Aufmerksamkeitsgier äussert.

Manel Naher hat ein Problem: Ihr Name ist in aller Munde, doch leider denken alle Menschen bloss an die gleichnamige Sängerin. Ihr Leben existiert lediglich zwischen den einengenden Räumen der Familienwohnung und dem verstaubten Buchladen, den sie täglich besucht. Zusammen mit ihrem besten Freund will sie in die grosse Leere ausserhalb der Stadt fliehen. Doch vor dem Aufbruch hat sie einen Herzinfarkt und steht an der Schwelle zum Tod.

Wie erfahren wir in unserem Leben, wer wir sind? Dass wir ein Gewicht und eine Daseinsberechtigung haben? In der heutigen Zeit holt ein grosser Teil der Menschheit diese Bestätigung auf Social Media und via Selbstdarstellung ab. Ein gefährlicher Umstand, dessen Auswüchse Léa Murawiec in ihrem Comic ins groteske überzeichnet.

Die studierte Grafikdesignerin aus Frankreich inszeniert in «Die grosse Leere» eine Gesellschaft, die sich nur noch über Präsenz und Wahrnehmung definiert. Wenn niemand mehr an dich denkt, verendest du. Die gezeichneten Strassenschluchten werden von Namensschildern beherrscht, die Figuren verbiegen sich auf jegliche Weise, um Ruhm ernten zu können. Dagegen stellt sich Mahel, allein, als unfreiwillige Heldin der Erzählung.

Gesellschaftskritik, Science-Fiction und Humor prallen aufeinander, die junge Autorin zeigt alle Register ihres Könnens. Die Geschichte ist flott erzählt und fächert sich mit jeder Seite weiter auf, die Zeichnungen sind perfekt ausgeführt. Dynamische Panels enthalten die Energie der Manga-Kunst, extreme Perspektiven und Gesichter schaffen einen Kontrast zum ernsten Inhalt. Mal zeigen sich die Bilder mit vielen Details und anatomischer Korrektheit, dann wieder verkommen Figuren und Momente zu Karikaturen und Webtoon-ähnlichen Formen.

Das funktioniert hervorragend und lässt einen Sog entstehen, dem man sich nicht entziehen kann. Auch die reduzierte Farbgebung und die exakten Architekturzeichnen fügen sich in diese Wirkung mit ein, der Kontrast der Mittel geht auf. Das weitum bekannte Gefühl der Leere und Einsamkeit verpufft nach dieser Lektüre, das offene Ende lädt zum Weiterspinnen der Geschichte ein.

Und wenn ihr nach der Lektüre Léa Murawiec im Internet zu folgen beginnt, denkt daran: das wahre Leben spielt sich ausserhalb der Likes und Shares ab.