von Cornelia Hüsser • 02.05.2023
Ein alter Mann wird tot aufgefunden, in der winterlichen Kälte liegend und nach Westen blickend. Sein Tod wirft Fragen auf, genauso wie sein Testament. Den drei Söhnen vermacht er das Gasthaus «Sonne» – aber nur unter klaren Bedingungen.
Und zwar muss der künftige Verwendungszweck bis drei Tage nach dem Tod des Vaters beim Anwalt hinterlegt werden. Andernfalls verkauft es dieser an den Meistbietenden. Einer der drei Brüder muss ausserdem für mindestens drei Jahre Hausherr der «Sonne» sein. Ansonsten droht der Pflichtteil.
Auf schmalen, aber reichhaltigen 86 Seiten entspinnt Markus Kirchhofer anschliessend eine Geschichte, in der es um unterschiedliche Lebensentwürfe, Familie, Vergangenheit, Erinnerungen und Zukunft geht. Im Gespräch mit Cheryl Kubin von der Leserei Zofingen spricht er über das Schreiben, seine Figuren und die Perspektiven, die er einnimmt.
Cheryl Kubin: Markus, wie sind die Figuren für «Das Planetenrührwerk» entstanden – hattest du sie schon von Anfang an vor Augen, oder haben sie sich mit der Zeit entwickelt?
Markus Kirchhofer: Einige Dinge waren von Beginn an klar, beispielsweise der Anfang und der Schluss des Romans. Ebenso die Figuren der drei Brüder an sich. Gerade aber der Hintergrund von Peter hat sich im Schreibprozess stark verändert. Das Trauma, das er erlitten hat, hatte zuerst eine andere Ursache. Es war interessant, immer wieder zu hinterfragen, was so etwas für den weiteren Verlauf der Geschichte und für die Beziehung der drei Brüder bedeutet.
Hattest du zu den einen Figuren einen besseren Zugang als zu anderen?
Mir sind alle Figuren nah. Gerade die Berufe als äusseres Merkmal sind aus meinem Leben gegriffen. So bin ich selbst Lehrer wie Jürg, hätte aber beinahe wie Rolf eine Banklehre gemacht. Es war spannend, eine Biografie aufzubauen, die meine eigene hätte sein können.
Auch das erwähnte Testament existiert übrigens wirklich – ich liess es im Rahmen der Recherche juristisch sauber ausarbeiten. Obwohl es im Roman nur kurz vorkommt, war es eine wichtige Grundlage.
Du hattest also viel mehr Material, als am Schluss tatsächlich im Buch vorkommt. Was ist die Herausforderung an der Textsorte Roman?
Gedichte waren immer die Basis meines Schreibens. Ich schreibe seit über 50 Jahren Haikus. Man kann sie wohl am besten mit einer Fotografie vergleichen, einer Momentaufnahme. Ein Roman ist dagegen vielmehr wie ein Film: man muss sich über Dramaturgie und Figurenzeichnung Gedanken machen. Es ist ungleich aufwändiger, aber ich habe tatsächlich schon Skizzen für eine Fortsetzung gemacht.
Im Roman ist ein Ort zentral: die Käserei.
Auch hier konnte ich aus eigener Erfahrung schöpfen, da ich lange über einer Käserei gewohnt habe. Der Titel meines Romans, das Planetenrührwerk, ist eigentlich ein technischer Begriff. In automatisierten Käsereien stehen grosse Fertiger mit einem Mechanismus, der die Rührwerkzeuge – die Harfen – auf einer Kreisbahn bewegt und sie gleichzeitig um die eigene Achse drehen lässt. Auch das Salzbad, in dem die Käse reifen, ist natürlich etwas sehr fantasieanregendes – im Roman kommt es sogar zu einer erotischen Begegnung darin.
«Die Harfen tanzten durch die eingedickte Milch, beschwingt und kraftvoll. Umeinander herum und durcheinander hindurch. Scheinbar chaotisch, aber ohne je zu kollidieren.»
Lyriker wollen einem oft mehr sagen als das, was geschrieben steht. Ist die Käserei eine Metapher?
Ja, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Parallelen finde ich zwischen dem Käsen und dem Schreiben. Für ein Kilogramm Emmentaler werden zwölf Liter Milch benötigt – dieses Eindicken, dieses Einreduzieren ist auch in einer Geschichte wichtig. Es entsteht bei beiden Prozessen viel Abfall. Was übrig bleibt, wird in eine Form gebracht und reift weiter, bis man ein fertiges Produkt hat.
[Michael Bohli]: Obwohl nie konkrete Orte genannt werden, erfasst man sehr schnell, dass der Roman im Mittelland spielt. Hat das Mittelland eine besondere Ästhetik?
Die Ästhetik des Mittellandes ist keine offensichtliche. Es hat aber durchaus spannende Aspekte, beispielsweise in Bezug auf Biodiversität. Die menschlichen Spuren sind hier nicht zu übersehen. Im Grunde genommen leben wir in einer Millionenstadt zwischen Boden- und Genfersee, in der aber noch sehr viel Natur erhalten ist. Ein Grossteil der hiesigen Spezies lebt an den Flüssen und an Flussauen, hier finden sie verbundene Lebensräume.
«Im Mittelland liegt ein Netz aus Schotter, Beton und Kies, verziert mit Leitplanken und Verkehrsschildern. Die Autobahnen sind die Kathedralen der direkten Demokratie.»
Neben den Brüdern gibt es auch noch andere, besondere Erzählstimmen.
Im Roman kommen immer wieder Passagen vor, in denen die Natur selber spricht. Unter anderem kommen Bäume zu Wort, die auf die Spezies Homo sapiens blicken und sich ihre Gedanken machen. Das ist natürlich eine anthropomorphisierende Sicht, aber sie ist zugänglich. Wenn es zu abstrakt wird, kann man als Leserin oder Leser nicht mehr folgen.
Unsere Umweltprobleme sind etwas, das mich beschäftigt. Jeden Tag verschwindet eine dreistellige Anzahl Tierarten von der Erde, weil sie aus ihrem Lebensraum verdrängt werden. Vor diesem Hintergrund wollte ich der Natur im Roman eine Stimme geben.
Den Abschluss macht Markus Kirchhofer mit einer letzten Passage, gelesen unter einer alten Linde in der Altstadt von Zofingen. Jürg und Rolf fahren in Richtung der Voralpen zu ihrem Onkel Ernst. Dieser erinnert sich, wie er und seine Brüder jeweils im Juni in die Baumkrone der Linde neben dem Haus stiegen. Sie pflückten die Blüten und brachten sie auf den Dachboden zum Trocknen – zum Bewahren.
Markus Kirchhofer: Das Planetenrührwerk
Verlag: Knapp Verlag
89 Seiten · Hardcover
Erscheinungsdatum: 01.02.2022
ISBN: 978-3-906311-97-5