von Cornelia Hüsser • 06.04.2024
Verlag: Nagel und Kimche
448 Seiten • Hardcover
Erscheinungstermin: 19. März 2024
ISBN: 978-3-312-01335-7
Nach einer Krebsdiagnose entscheidet ein Vater, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Seine Frau geht mit ihm. Der Roman von Nicola Bardola befasst sich mit den Gefühlen und Zweifeln der Sterbenden und ihrer Familie.
Schlemm, der: gewonnenes Spiel, bei dem man 12 oder alle 13 Stiche bekommt
Der Mathematiker und Bridge-Meister Paul Salamun ist 75 Jahre alt, als er die Diagnose erhält: Krebs – und nur noch wenige Monate zu leben. Er und seine Frau Franca entscheiden sich für den gemeinsamen Freitod. Der assistierte Suizid ist in der Schweiz legal; die Sterbehilfe-Organisation im Buch nennt sich Right Of Way Society, kurz ROWS.
Das Paar bestimmt seinen letzten Tag und weiht nur die beiden Söhne und deren Partnerinnen ein. Sohn Luca nimmt die Aussenperspektive im Buch ein. Er ist selbst Vater und versucht nun umso intensiver, sich in Pauls Lage zu versetzen. Er erinnert sich an seine Kindheit, an seine Eltern in jungen Jahren und durchlebt einen Reigen von Gefühlen: Trauer, Beklemmung, Nachdenklichkeit, aber auch Zuneigung und ein Hoffen auf Begreifen.
Die zweite dominante Perspektive ist jene Pauls. Auch er erinnert sich zurück, an unzählige Bridge-Turniere, an die Jahre mit Franca, an Freundschaften und lange bewahrte Geheimnisse. Auch an Menschen, die vor ihm – und nicht selten leidvoll – gegangen sind. In diesen Passagen, die auch Franca einbeziehen, macht Bardola deutlich, dass die Entscheidung für den Freitod lange durchdacht und im Frieden mit sich selbst getroffen wurde.
Schalm, der: in die Rinde eines Baumes geschlagenes Zeichen
Der zweite Teil des Romans ist Fortsetzung und Rückblick zugleich. Luca versucht einige Jahre später, den Elterntod in eine Melodie zu überführen; demgegenüber steht die Zeit kurz vor der Geburt seiner Tochter, an die er sich zurückerinnert.
Noch stärker als im ersten Teil «Schlemm» lässt Bardola den Text in «Schalm» mäandern. Nicht nur springen die einzelnen Abschnitte im Zeitverlauf vor und zurück; es wird auch mit verschiedenen Textsorten hantiert. Tagebucheinträge, E-Mails und Zitate von Literaten und Philosophen durchbrechen den Gedankenstrom.
Schön sind auch die Schilderungen der Engadiner Landschaft, die den gewählten Lebensmittelpunkt der Eltern darstellt. Doch obwohl feinfühlig, wirkt der Text insgesamt eher distanziert – als wolle man das Thema nicht zu emotional, sondern klaren Kopfes betrachten.
Auch wenn Sterbehilfe in der Schweiz kein Tabuthema mehr ist: «Der grösstmögliche Beweis für Liebe» ist auch heute, fast 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung von «Schlemm», noch ein wichtiger Beitrag. Das Buch konfrontiert die Lesenden nicht nur mit zwei verschiedenen Sterbewünschen, sondern auch mit dem Umgang der Hinterbliebenen mit der Entscheidung. Es kann sowohl als Familienporträt als auch als Plädoyer für ein Sterben in Würde gelesen werden – etwas mitnehmen wird man aus der Lektüre mit Sicherheit.