Özlem Çimen: Babas Schweigen

von Cornelia Hüsser • 14.03.2024

Verlag: Limmat Verlag
120 Seiten • Hardcover
Erscheinungstermin: 14.03.2024
ISBN: 978-3-03926-071-3

Die innerschweizer Autorin Özlem Çimen begibt sich in ihrem Debüt «Babas Schweigen» auf eine Reise in die Vergangenheit eines ostanatolischen Dorfes. An ihrem Ende steht eine Erkenntnis, die gleichermassen belastend und befreiend ist.

Die Erzählerin Özlem wächst in den 1990er Jahren in der Schweiz auf, verbringt ihren Sommerurlaub jedoch regelmässig im Dorf ihrer Verwandten. Erzincan liegt im Osten der Türkei; hier sieht sie nicht nur ihre Grosseltern wieder, sondern auch allerlei Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Die Menge an Verwandten scheint endlos, ebenso die der Geschichten, die sie zu erzählen wissen. Doch alle scheinen sie von einer unerklärlichen Melancholie befallen.

Mit Erzincan verbindet Özlem dennoch mehrheitlich schöne Erinnerungen: Heisse Sommertage am Fluss, wie sie mit den anderen Kindern durch die Felder streunt und unreife Melonen stibitzt, wie sie das erste Mal ihren Kaffeesatz gelesen bekommt.

Eine Kaffeesatzleserin ist es auch, die ihr bei einem Besuch im Jahr 2013 voraussagt, dass sie hier etwas erfahren wird, das sie noch sehr lange beschäftigen wird. «Versuch, nicht alles so ernst zu nehmen» sind die Worte, die sie ihr mit auf den Weg gibt.

Und tatsächlich: Eher zufällig erfährt sie, dass das Dorf einst von Armenier:innen bewohnt war. Plötzlich ist sich Özlem nicht mehr sicher, woher sie eigentlich kommt. Ist ihre Familie tatsächlich türkisch, wie sie immer geglaubt hat? Haben ihre Grosseltern schon immer in diesem Dorf gelebt, schon immer diese Sprache gesprochen? Wieder zu Hause in der Schweiz, beginnt sie zu forschen. Schliesslich traut sie sich, ihren Vater danach zu fragen. Aber wird Baba sein Schweigen brechen?

Özlem Çimens Roman erzählt nicht nur von einer komplexen Familiengeschichte, die geprägt ist von Krieg und Vertreibung. Er erzählt auch von der Scham darüber, die über Generationen weitergegeben wird und im titelgebenden Schweigen mündet. Erzincans Vergangenheit ist blutig, und erst als Erwachsene kann Özlem hinterfragen, welche Rolle ihre Vorfahren darin gespielt haben. Die Erinnerungen an eine schöne, friedvolle Kindheit stehen plötzlich in krassem Kontrast zu den Gräueln, die auf dem gleichen Boden stattgefunden haben.

«Babas Schweigen» benennt diese, bleibt dabei jedoch subtil. Die Erkenntnis baut sich in Özlem Bruchstück für Bruchstück auf, bis sich das grosse Bild aus Unterdrückung, Vertreibung, Verlust von Kultur und Sprache und von schlichtem Überleben zusammenfügt. Um als Leser:in die Geschichte genau zu erfassen, reichen die schmalen 120 Seiten nicht aus; die Autorin gibt einem aber weiterführende Lektüre an die Hand, mit der das Thema vertieft werden kann. Und es gelingt ihr, zum Abschluss den Kreis ins Heute zu schliessen – berührend und versöhnlich.


Veranstaltungshinweis: Sofalesung mit Özlem Çimen
in Kooperation mit dem Lettera Literaturfest

Sonntag, 07.04.2024 • 17:00 Uhr
Terranova Bücherparadies im Himmelrich, Luzern

Tickets: sofalesungen.ch