Raluca Antonescu: Infloreszenz

von Cornelia Hüsser • 22.12.2024

Verlag: die Brotsuppe
300 Seiten • Hardcover
Erschienen: 12.09.2024
ISBN: 978-3-03867-101-50

Vier Frauen, vier Schicksale: Raluca Antonescu verwebt in ihrem Roman «Infloreszenz» die Geschichten von vier Nachfahrinnen ineinander – und bringt Unausgesprochenes und Verdrängtes ans Tageslicht.

Jura, 1911: Verzweifelt sucht eine Frau den Krater auf der Hochebene auf, der von den Einwohnern das «Teufelsmaul» genannt wird. Ein fauliger Geruch dringt daraus nach oben. Sie entblösst ihren prallen Bauch und bittet den Teufel, das Kind zu holen – einen weiteren Mund zu füttern, scheint ihr unmöglich. Sie fleht vergebens – und wird zur Ahnin von vier Frauen.

Während das Kind nicht vom Teufel geholt wird, landet so manch anderes in der Schachthöhle. Die (tatsächlich exisiterende) Gouffre de Jardel wurde zu Beginn der Romanhandlung zur Entsorgung von Tierkadavern benutzt; später, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde darin unbenutzte Munition versenkt. Die Folge davon war verseuchtes Trinkwasser. Das «Teufelsmaul» steht symbolisch für Geheimnisse, die man tief vergraben will, die aber stets an die Oberfläche zurückfinden – auch wenn es viele Jahrzehnte dauert.

Jura, 1923: Aloïse wird von ihrem Vater verstossen, der ihr die Schuld am Tod ihrer Mutter gibt. Sie lebt die meiste Zeit von und in der Natur, bis sie von einer besser situierten Herrin aufgenommen wird und dort ihre Leidenschaft für die Gartenarbeit entdeckt.

Das Thema «Garten» wirkt als grosses verbindendes Element zwischen den Generationen. Ob in Form eines reichen Zier- oder eines sterilen Stadtgartens, als Schrebergarten oder Stück Wald: So unterschiedlich die Frauen in ihren Persönlichkeiten sind, so verschieden sind auch ihre Bezugspunkte zur Natur und ihr Umgang damit, der von Hingabe bis zu Ablehnung reicht.

 

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Île-de-France, 1967: Amalia zieht in eine neue Wohnsiedlung nach amerikanischem Vorbild – gerastert, sauber, ordentlich. Endlich kann sie das Landleben ihrer Kindheit  hinter sich lassen und schwört sich, dass in dieses Heim nicht einmal eine Fliege eindringen wird.

Alle Nachfahrinnen erleben in gewisser Weise eine Verletzung durch ihre jeweilige Mutter; sei es durch deren Abwesenheit, falsch verstandene Fürsorge oder den Zwang, angepasst und unauffällig zu bleiben. Erst im Erwachsenenalter wird es ihnen gelingen, sich mit diesen Traumata auseinanderzusetzen – und manchen, sie zu überwinden.

Genf, 2007: Vivian hat gerade ihre Mutter verloren und wird von ihrem Freund im Stich gelassen. Langsam nähert sie sich ihrem Stiefvater an, mit dem sie bisher nicht viel verbunden hatte – der nun aber, absurderweise und wortwörtlich, in seinem Stück Schrebergarten aufzublühen scheint.

Mit «Infloreszenz» wird der Blütenstand bei Samenpflanzen bezeichnet. Und wie vier Blüten wird hier anhand der vier Frauen eine Familiengeschichte von fast einem Jahrhundert erzählt – die Natur stets als eine Art weitere Figur im Hintergrund, mal wild, mal gezähmt, mal verletzt.

Patagonien, 2007: Die Umweltaktivistin Catherine lebt ein zurückgezogenes Leben, das sie der Wiederaufforstung widmet; ein zermürbendes Unterfangen, wenn man gleichzeitig zusehen muss, wie weiterhin Bäume gefällt und Wälder gerodet werden.

Raluca Antonescu führt mit (sehr) kurzen Kapiteln durch die Lebenswege der Frauen und verwebt sie ineinander. Der schnelle Rhythmus ist gewöhnungsbedürftig. Es ist nicht von Anfang an klar, wie die Figuren zueinander stehen; erst nach und nach wird enthüllt, was sie miteinander verbindet. Manches bleibt auch gänzlich unbeantwortet. Geheimnisse wurden schliesslich nicht nur im «Teufelsmaul», sondern auch in dieser Familiengeschichte tief begraben.

Eine ruhige und melancholische Lektüre, die von Trauer und ewig Unausgesprochenem, aber auch Selbstermächtigung und dem eigenen Platz in der Welt handelt.