von Cornelia Hüsser • 05.05.2023
Verlag: Atlantis
240 Seiten · Hardcover
Erscheinungstermin: 2022
ISBN: 978-3-7152-5012-0
Manchmal wollen Menschen nur das Beste für sich und ihre Liebsten – und fügen ihnen genau damit grossen Schmerz zu. In ihrem neuen Roman beleuchtet Ursula Fricker eine Kindheit, die vom Gesundheitswahn des Vaters geprägt ist – und von der sie sich weit weg in London löst.
«Selber schuld» – so oder so ähnlich kommentiert es Hannes Vaters stets, wenn jemand in seinem Umfeld erkrankt. Denn Gesundheit sei einem nicht einfach so gegeben, man müsse sie sich erarbeiten: mit einer strengen Diät, ausgesuchten Nahrungsmitteln und viel frischer Luft.
Dieses Mantra erlegt der Vater nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Familie auf. Fast alles ist Gift: Fleisch, Brot, Nudeln und die von Autos verpestete Luft. Morgens zählt er akribisch seine Mandeln und Haferflocken ab und hat keinerlei Verständnis, wenn es andere nicht genau so tun. Mit seinem Gesundheitswahn tyrannisiert er Frau und Kinder, Einladungen zum Essen sind ein Ding der Unmöglichkeit. Er legt absurde Strecken zurück, um einen Demeter-Apfel zu kaufen – in einer Zeit, in der es im Supermarkt noch nicht einmal Bio-Gemüse gibt (und der deshalb ebenso verteufelt wird).
Die Mutter ordnet sich den Ansichten des Patriarchen – anders kann man die Familienverhältnisse kaum beschreiben – unter. Eine echte Wahl hat sie nicht: «Schwieg Mutter zwei Sekunden zu lange, zersprang schon ein Glas an der Wand».
Nun aber hat es den Tyrannen selbst erwischt. Die Ironie könnte grösser kaum sein: mit Darmkrebs in Endstadium liegt er im Wohnzimmer, die Naturheilerin konnte nichts mehr ausrichten. Er wird von seiner Frau gepflegt. Diese hat derweil den Kühlschrank mit Schokoladenjoghurts aus der Migros bestückt; er sieht sie nicht mehr.
In diesen Tagen reist Tochter Hanne aus Berlin an. Von der Angst, die sie früher vor ihrem Vater hatte, ist nichts mehr übrig. Ob sie Mitleid haben, sich versöhnen oder sich rächen will, weiss sie jedoch auch nicht. Hier lässt sie ihre Erinnerungen zurückschweifen in ihre Kindheit und Jugend, die Zeit als Au-Pair in London, in der sie endlich aus dem familiären Sektierertum ausbrechen und ihre Freiheit auskosten konnte.
«Gesund genug» ist die Geschichte eines Familientyrannen, aber insbesondere auch eine Geschichte über das Unausgesprochene, das zwischen den Menschen steht. «Weisst du eigentlich, dass dein Birchermus-Benner, dein Bruker und vor allem dein Kollath Nazis gewesen sind, Leute, die nicht nur Nahrung, sondern Menschen in vollwertig und minderwertig eingeteilt haben, könnte ich sagen» – Hanne sagt es nicht. Auch als in ihrem Freundeskreis neue Ernährungsweisen in Mode kommen und alte Traumata wecken, schweigt sie meist.
Themen des gesunden Lebens und der «richtigen» Ernährungsweise sind aktuell wie nie. Obwohl der Roman ab den 1960ern spielt, wirft er Fragen nach Lebensgestaltung und Orientierung auf, die wir uns auch heute stellen sollten. Die Selbstreflexion der Erzählerin bietet Hand – und findet zum Schluss doch noch einen versöhnlichen Ton.