Valerie-Katharina Meyer & Julia Rüegger: Und überlaut die Zikaden

von Tim Klaffke • 10.03.2025

Verlag: edition Mosaik
84 Seiten • Hardcover
Erscheinungstermin: 21.02.2025
ISBN: 978-3-9505646-9-3

Valerie-Katharina Meyer und Julia Rüegger legen mit «Und überlaut die Zikaden» ein experimentelles Lyrikwerk vor, das seinesgleichen sucht. In poetischen Alltagsfragmenten wird der fragile Zustand der Welt deutlich. Klar wird auch, dass wir nur in diesen Fragmenten Halt finden können.

Die Basler Lyrikerinnen wählen für «Und überlaut die Zikaden» den literarisch wenig begangenen Weg der Co-Autorschaft. In einem poetischen Zwiegespräch senden sie sich kurze Nachrichten zu, lyrische WhatsApp-Messages oder kurze Mails. Der Kontext der Nachrichten ist meist nur vage aus ihrem Inhalt zu erahnen; sie erzählen sich kurze Beobachtungen, Geschichten, die Träume sein könnten, oder stellen einander staunend-naive Fragen. Beim Lesen wusste ich nicht, wer jetzt spricht und wann, oder was der Anlass dieses oder jenes Austausches war. Es kam mir auch nicht wichtig vor, denn die Fragmente, die Kürzestgedichte, die in einem beständigen Strom aus Prosa und Lyrik ineinander übergehen und mich in Verlegenheit bringen würden, müsste ich sie laut vortragen, stehen für sich.

Dass die aus dem Dialog herausgefallenen Bruchstücke sich nicht orten lassen und wir an sie als Wander:innen ohne Karte herangeführt werden, entspricht einem Topos des Nicht-orientiert-Seins, der sich durch das ganze Buch zieht. Meyer und Rüegger fragen mehr, als sie antworten, verweigern alte Gewissheiten, die ihre Gültigkeit überlebt haben. Nicht im Mindesten ein Defizit, ist nicht orientiert zu sein eine Entscheidung der Autorinnen: «Wir glauben nicht, dass ihr euch hier zurechtfinden werdet. Wir glauben nicht, dass wir uns hier zurechtfinden sollten.» heisst es im «Zweiten Vorwort».

 

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Dass diese Entscheidung eine Tugend ist, wird im Zusammenhang mit der im Text immer wieder aufschwellenden eco-anxiety klar. Die hohen Sommertemperaturen einer griechischen Insel lassen sogar die technischen Geräte ermatten und die Schreibende kommt in der Hitze nicht mit ihren Aufgaben voran. Gleichzeit war es «[i]n Basel der nasseste und kälteste Mai seit Jahrzehnten, am Nordpol Temperaturen von 30 Grad.» Wenn einem durch die Klimaerwärmung nicht nur die kulturellen, sondern vor allem auch die natürlichen Bezugspunkte abhandenkommen, gilt es sich an das zu halten, was direkt vor einem in der «brüchigen Gegenwart» liegt. Das Unmittelbare des Alltäglichen, der Beobachtungen und der Gefühle, aus denen der Text gewebt ist, ist echt und nicht anzweifelbar. Es ist deswegen über alle obsolet gewordenen Karten und Kompasse erhaben. An dieses Unmittelbare kann man sich halten, auch wenn man nicht weiss, wo man ist, und wo man hingeht.

«Und überlaut die Zikaden» ist in einer Sprache geschrieben, die bald zugänglich, bald poetisch verfremdend, doch immer berührend und aufrichtig ist. In einer radikalen, sehnsüchtigen Ehrlichkeit reden die Autorinnen einem lyrisme das Wort, der ohne erste Person Singular auskommt, der sich ausdrückt in «Sätzen, die weder dir noch mir gehören». Es sind diese Expressionen eines fragenden Menschen-Seins, die einen berühren und wissen lassen, dass man das Alltägliche der Erfahrungen der Autorinnen teilt, dass man einen Körper hat und dass man lebt. Gleichzeitig scheinen sie eine Erinnerung daran zu sein, dass wir vielleicht zu wenig leben und, seien sie noch so laut, die Zikaden oft nicht hören.