von Cornelia Hüsser • 08.08.2024
Verlag: Verlag die Brotsuppe
248 Seiten • Hardcover
Erschienen: 2023
ISBN: 978-3-03867-085-8
Wie gelingt ein Roadtrip durch die Schweiz in nur einer Stunde? Die Antwort kennen wir aus unserer Kindheit: im Swissminiatur. Auf dem Weg nach Melide gönnen wir uns die passende Lektüre, die die helvetische Idylle bröckeln lässt.
Überschwemmungen, Gerölllawinen und Hitzewellen: Der Sommer 2024 ist nicht weit entfernt vom Höllenloch Schweiz, in dem der neue Roman «suisseminiature» von X Schneeberger spielt. Dystopisch in einer nahen Zukunft angelegt, fahren drei Freund:innen – eine Dragqueen, ein DJ, eine Stripperin – im umfunktionierten Lovemobile durch das Land, das verbrannt ist. Das Ziel: der Untergrund. Denn in dieser Schweiz ist nicht nur das Réduit, sondern das ganze Land untertunnelt und miteinander verbunden. Oder war das nur ein Fiebertraum?
Meine Haut begann Dampfschwaden abzusondern wie sachter Discohaze.
Die Erzählung kreist einerseits um Drogen, Sex und Raves, um fluide Identitäten, Liebe und Freundschaft. Doch hauptsächlich kehrt sie immer wieder zurück ins Suisseminiatur, beziehungsweise an dessen Schauplätze. Die hübschen Bauernhöfe, gepflegten Burgen und herrschaftlichen Rathäuser sind Ausgangspunkte für den Blick in den Abgrund.
So führt der Emmentaler Bauernhof direkt in einen Bunker der Geheimarmee P26. Das Geranium auf der Fensterbank ist ein traditioneller Neophyt aus Südafrika, von dessen Apartheid die Schweizer Wirtschaft profitierte. Fichen werden hervorgeholt. Kulturboykott, Bücherverbrennungen, Sorgerechtsentzug, Schwulen-, Ausländer- und Judenhetze – nichts bleibt mehr verborgen. Selbst der putzige Bahnhof Blausee-Mitholz täuscht nicht mehr darüber hinweg, dass in einem Munitionslager der Schweizer Armee eine der grössten nicht-nuklearen Explosionen geschah – die Munitionsreste, noch immer explosiv, liess man liegen.
«suisseminiature» ist eine Roadnovel durch die abgründigen Etappen der jüngeren Schweizer Geschichte. Der glatte Asphalt des Landes bröckelt gehörig, und auch wenn man ihn allerorts zuklebt, bricht er doch wieder auf. Was freigelegt wird, ist nicht schön.
Stilistisch bleibt X Schneeberger experimentell. Gedanken und Erinnerungen der Figuren sind im Fluss und – teilweise drogeninduziert – nicht unbedingt stringent. Wie in einem Labyrinth irrt man von einem Thema zum nächsten, kommt manchmal wieder zurück oder verweilt einen Moment. So wirr das klingt, so spannend sind aber die aufgegriffenen Fakten und so zynisch der Ton. Ob man sich das langsam und hochkonzentriert oder genauso rasant wie der Text selbst zu Gemüte führen möchte – man wird mit einer intelligenten und kraftvollen Lektüre belohnt.