von Michael Bohli und Cornelia Hüsser • 24.01.2024
An den 59. Solothurner Filmtagen wurden diverse Preise vergeben, wir haben uns den nominierten Produktionen gewidmet und viele frische Ideen und Namen entdeckt.
Filme in Solothurn zu sichten ist jährlich ein Indikator für das kommende Kinoprogramm und die Ausrichtung, die das Schweizer Filmschaffen einschlägt. An den 59. Ausgabe der Filmtage gab es nicht nur die renommierten Preiskategorien zu erleben, sondern mit dem neu gestalteten «Visioni» eine Plattform für Erst- und Zweitwerke.
Eine grosse Auswahl an spannenden Produktionen, die nach Urlaub in Solothurn schreit und Entscheidungen nicht einfach macht. Unabsichtlich etwa sahen wir keinen Film aus der Reihe «Prix du Public», dafür einige Visionen.
Flucht und Asyl sind zentrale Themen der heutigen Zeit, das zeigte sich erneut in Solothurn. Diverse Filme beschäftigen sich mit Migration, sehr eindringlich und auf ungewohnte Weise die Dokumentation «Die Anhörung» von Lisa Gerig. Der emotional erschütternde Film bietet Einblicke in die Arbeit des Staatssekretariats für Migration SEM mit gut komponierten Aufnahmen, Musik von Martina Berther und einer grossen Leistung aller Beteiligten.
Nachgestellte Gespräche zeigen, wie mit Asylanten umgegangen wird, durch einen Kniff werden die Rollen vertauscht. Das ist in Bezug auf die Stichworte Wahrheit und Inszenierung nicht komplett schlüssig, liefert aber viel Denk- und Diskussionsstoff, wie das nachfolgende Filmgespräch vor Ort zeigte.
Für Mehdi Sahebis neuen Film ist die Schweizer Asylpolitik ebenfalls zentral, sein Fokus liegt mit «Prisoners of Fate» aber auf den Menschen und deren Schicksal im Leerraum der politischen Mühle. Es werden Leben gezeigt, nicht bloss Zahlen und Schlagzeilen, die intimen und privaten Momente gehen nahe und treffen das Herz.
Der traurige Film liefert mit seinen digitalen Aufnahmen ein rohes Abbild der Migration, wenn auch die symbolische Grundlage des Schicksals vor allem als Aufhänger dient. Trotzdem, die Dokumentation ist einfühlsam und gesellt sich zu aktuellen Produktionen des Themas.
Weit weg von der bürokratischen Schweiz sind die Geschehnisse in der Wüste von Niger, in der nach gesetzlichen Änderungen viele Schlepper den Migrationshandel aufgegeben und sich der Goldsuche zugewandt haben. «2G» versucht eine Annäherung an deren Leben, Karim Sayad filmt die Umgebung und Orte und begleitet einzelne Männer im Alltag.
Vieles bleibt in der Dokumentation offen, direkte Erklärungen werden keine geliefert. Und obwohl diverse Momente zu inszeniert wirken, bilden die Einblicke in das harte und unbekannte Leben eine faszinierende Atmosphäre. Hoffnung und Leid vermengen sich zu einem Zustand, der in Agadez Leben bedeutet.
Das Leben in Panama ist für uns ungewöhnlich, sonnendurchflutet und in der Kuna-Gemeinschaft von Ritualen geprägt. Eine Gesellschaft im Wandel, die in den Siebzigerjahren von Pierre-Dominique Gaisseau für einen Dokumentarfilm mit kolonialistischer Sicht besucht wurde. «Dieu est une femme» erzählt von den verschollenen Aufnahmen und den damaligen Zeiten, die im Heute als Wurzeln dienen.
Die Dokumentation von Andrés Peyrot beschäftigt sich mit der antikolonialistischen Weltsicht und der Selbstermächtigung der Kuna. Schöne Aussagen und Bilder treffen auf die westliche Unterdrückung, ein eigener Weg wird gesucht. Aber Achtung: Mit einem Portrait einer matriarchalen Gesellschaft beschäftigt sich der Film wenig.
Sehr viel will hingegen «Operation Silence – Die Affäre Flükiger» von Werner Schweizer erzählen. Der Filmemacher behandelt den scheinbaren Selbstmord des Offiziersaspiranten Flükiger im Jahre 1977. Dieser Todesfall wurde bis heute nicht aufgeklärt und weist Verbindungen zum Befreiungskampf des Juras und den Terroraktivitäten des damaligen Europas auf.
Schweizer versucht sich an einer Rekonstruktion, die als Film zu lang geraten ist und deren nachgestellte Szenen mit Sonja Riesen als Flükigers Schwestern fragwürdig und rührselig sind. Eine konzentrierte Nüchternheit wäre besser gewesen, dafür zeigt die Doku gut, wie der Rechtsstaat Schweiz seit langem brachial gegen Linken Aktivismus vorgeht.
«8 Tage im August» verbringen zwei befreundete Familien – jeweils Mutter, Vater und Sohn – gemeinsam in Italien. Als Teenager Finn eines Nachmittags zusammenklappt und ins Krankenhaus gebracht wird, beginnt auch das Beziehungsgefüge zwischen den Erwachsenen zu bröckeln. Nach und nach nimmt die Handlung absurdere Züge an, was einer gewissen Komik nicht entbehrt. Leider gelingt es dem Film aber kaum einmal, zu berühren. Die Figuren bleiben flach, es fehlt an Wucht und Dringlichkeit. Was am Anfang noch auf eine «Force Majeure» im Sommer-Setting hoffen liess, verläuft schnell im Sande.
Sommerlich sind auch die drei Situationen, die Michael Karrer mit seinem ersten Langfilm «Füür Brännt» aufzeigt. Freund:innen treffen sich, Kinder spielen und es wird diskutiert. Fiktive Momente, die wie die Realität aufgezogen wurden und in ihrer Mischung Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend evozieren.
Das geschieht mit statischen Kamerapositionen und realistischen Dialogen, Wärme und Nähe entstehen durch die Beobachtungen. Ein Gruss an Kollege Alan Mattli von Maximum Cinema, der den wunderbaren Film sehr treffend als «eine Mischung aus Cyril Schäublin und Richard Linklater» beschrieb.
Wie weit darf man gehen, um seine Ideale zu verteidigen – und wie haben sich die Strategien und Themen mit den Jahrzehnten verändert? «Autour du feu» von Laura Cazador und Amanda Cortés zeigt den nächtlichen Austausch zwischen drei jungen Aktivistinnen und zwei älteren Ex-Revoluzzern, die damals zu weit gegangen sind. Die Diskussionen verlaufen stets respektvoll – auch dann, wenn sich Standpunkte diametral gegenüberstehen.
Es ist spannend, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen; was fehlt, ist jedoch tatsächliches Eingehen, ein Erforschen und Hineinversetzen in die andere Seite. Das aber steht und fällt mit den Gesprächsteilnehmenden. Der Film gewann den Preis der Sektion «Visioni».
Voller Witz und mit leicht sarkastischem Blick auf die Selbstvermarktung bei «Crowdfunding»-Kampagnen liefert Florian Kasperski seinen One-Take-Kurzfilm ab. Wer kennt es nicht, diese Einführungsvideos voller Kalauer und Positivität. Dahinter allerdings stecken viel Aufwand, Leid und Marketing. Das zeigt die sympathische Kate Fisk in der Hauptrolle perfekt.
Mittellang das dreigeteilte Debüt «Sun Set Rise» von Leo Shearmur und Taro Spirig. Eine Doku-Fiktion über unseren Umgang mit endlichen Momenten, Erinnerungen und der Medientheorie. Nach anfänglicher Behandlung der Sonnenuntergänge driftet die Produktion auf eine humorvolle Metaebene und liefert interessante Beobachtungen und Kommentare ab. Überraschend und clever geschnitten.
Wichtige und sehr sympathische Einblicke in das Leben von 18-Jährigen bietet Julie Wolf mit ihrer Dokumentation «SAB». Sie begleitete diverse ihrer Freund:innen während deren Zwischenjahre durch die Leere, die Unsicherheiten und Abenteuer.
Das Resultat ist ein unterhaltsamer, witziger, offener, direkter und unverstellter Blick auf tolle Menschen, mit denen man sehr gerne die Zeit im Kino verbringt. Ein Film, der eigene Erfahrungen mit der Leichtigkeit der Jugend zusammenbringt und Sehnsüchte weckt.
«La scomparsa di Bruno Breguet» von Olmo Cerri schaut ins Gestern, die Dokumentation beschäftigt sich mit dem Verschwinden des ehemaligen Radikalen aus dem Tessin. In Form und Gestaltung ziemlich schematisch aufgezogen, bringt der Film das Schicksal Breguets und seiner Weggfährt:innen einer neuen Generation näher, verliert aber stellenweise den Fokus.
Cerri öffnet die Doku für persönliche Gedanken und globale Entwicklungen zum zivilen Widerstand, was den Film im letzten Drittel zäh wirken lässt. Trotzdem ist es verwunderlich zu sehen, was früher alles in der Schweiz und Europa so abging.
Weniger aufregend: Fünf Personen telefonieren an öffentlichen Plätzen in Zürich mit einem unsichtbaren Gegenüber – und schildern dabei Intimes und Persönliches. Während die Geschichten in «Taube Feuer» von Dominik Zietlow zwar nicht uninteressant sind, fehlt dem Film aber doch ein übergreifender Bogen. Dass die Szenen im Winter aufgenommen wurden – im Schutz eines leeren Platzes statt neben fremden Menschen – schwächt die Aussagekraft zusätzlich ab.
59. Solothurner Filmtage
Ort:
Diverse Lokale, Solothurn
Datum:
17. bis 24.01.2024
Website:
solothurnerfilmtage.ch