von Michael Bohli • 10.09.2024
In Baden war Fantoche angesagt. Das bedeutet: Massig Animationswunder, viele Tage im Kino und regelmässiger Spanisch-Brödli-Konsum. Divers und schmackhaft waren die Langfilme.
To be honest, mit animierten Filmen setzte ich mich nur einmal im Jahr auseinander, dafür intensiv. Das Fantoche Festival in Baden ist die beste Anlaufstelle für Neuentdeckungen, da sich die Schweizer Kinolandschaft bei animierten Werken meist auf Fliessbandprodukte Seitens Disney oder aktuelle Animes (here to stay!) beschränkt. Die am jährlichen Festival gebotene Vielfalt ist berauschend.
Nicht nur die Vielseitigkeit der Trickformen und Macharten, sondern der Erzählweisen, Perspektiven und emotionalen Wirkungen. Eintauchen und mitreissen lassen war 2024 angesagt, was bei vielen Langfilmen super gelang.
Mein erster Tag am Festival wurde durch wunderbare Melodien und packende Sounds verbunden. Das unerwartete Leitthema nahm die Musik ein: Beim Wiedersehen mit den cuten Freund:innen von «Ernest & Célestine – Le voyage en Charabie» (Julien Chheng, Jean-Christoph Roger) ging die Reise ins Land der Musik, in der keine Melodien mehr gespielt werden dürfen. Maus und Bär gegen einen faschistischen Staat, mit tollen Einfällen, aber weniger packend als beim Originalfilm von 2012 erzählt.
Emotional ergreifend und wunderschön war die Überraschung mit «Sirocco et le royaume des courants d’air»: Benoît Chieux hat ein fantasievolles, mit kindlicher Freude gestaltetes Abenteuer auf die Leinwand gebracht, das pures Glück auslöste. Das geniale Design, die Farben und die umwerfende Musik von Pablo Pico liessen mich mit klopfendem Herzen im Kino sitzen.
Wie es der Name bereits sagt, stehen bei «Tender Metalheads / Heavies Tendres» (Carlos Pérez-Reche, Joan Monfort) junge Menschen im Zentrum, die durch «heavy» Platten Freundschaft und zwischenmenschliche Gefühle entdecken. Die reduzierten Zeichnungen nahe einem Fotoalbum, die ehrlichen Inhalte und das gelungene Voice Acting verbinden sich zu einem knuffigen, mitreissenden Film.
Festivaltage 1 • Spanisch Brödli 1
Gemächlich startete ich mit «Slocum et Moi» in meinen Festival-Donnerstag: Die ruhige Vater-Sohn-Geschichte von Legende Jean-François Laguionie ist schön bebildert, beschäftigt sich feinfühlig mit Sehnsucht und Fernweh – wirkte aber etwas altbacken.
Umso grösser der Kontrast bei «The Storm» von Yang Zhigang, der in atemlosem Storytelling durch die chinesische Mythologie rast und massenhaft Fabelwesen auf die Leinwand brachte. Wasser, Schiffe, familiäre Probleme und Epik – bloss nacherzählen könnte ich hiervon nichts. Wollte der Film zu viel?
Die grössten Erwartungen hatte ich bei «Sauvages», kehrte Claude Barras nach seinem famosen «Ma vie de Courgette» endlich mit einem Stop-Motion-Abenteuer zurück. Filmtechnisch eine Wonne (die Tiere, das Licht, die Details), verlässt das Drama um den Raubbau im Amazonas nie die stereotypisch ausgelutschten Erzählpfade. Sehr schade.
Festivaltage 2 • Spanisch Brödli 2
Du brauchst nachvollziehbare Geschichten mit klarer Struktur? Dann ist «Reise der Schatten» nichts für dich. Der erste lange Film von Yves Netzhammer bringt dessen Kunst ins Kino und liefert Gesellschaftskritik, Game-Ästhetik und Bodyhorror in abstrakten Sequenzen. Ein surreales Experiment mit eigener Formsprache.
Horror gab es auch bei «La plus précieuse des marchandises», fügte Michel Hazanavicius in seinem ersten Animationsfilm die Mechanismen eines Märchens mit dem Holocaust zusammen. Ein traurig-schöner Film über Widerstand und Menschlichkeit, wichtig, aber irgendwie zu gewohnt. Emotional konnte mich die Geschichte nie komplett erreichen.
Was für ein Spass: «Ghost Cat Anzu» (Yôko Kuno) ist das beste Argument für Rotoskopie und lässt uns gemeinsam mit Karin sommerliche Abenteuer mit Geisterwesen erleben. Katzen machen jeden Film besser, das beweist dieser Anime und liefert tolle Charaktere, schönes Design und eine wichtige Botschaft.
Festivaltage 3 • Spanisch Brödli 2
Gewalt und Krieg verändert ein Land und seine Bewohner:innen über mehrere Generationen. Das unterstrich Simone Massi mit «Invelle» auf künstlerische Weise. Aus 3D-Renderings und Rotoskopie wurde ein Film in fliessenden Kratzbildern, eine beachtliche Handarbeit. Drei Konflikte und drei Generationen in Italien, ästhetisch gestaltet, aber leicht verwirrend erzählt.
Ein Blick in die Neunzigerjahre und der Aufbruchsstimmung nach den geöffneten Grenzen Ungarns lieferte die Mischung aus Krimi, Abenteuerfilm und Dokumentation namens «Pelikan Blue». Interviews, 8mm-Aufnahmen, tolle Songs und viel 90s-Flair brachte László Csáki zu einem packenden und unterhaltsamen Ergebnis zusammen; das Fälschen von Zugtickets war nie so aufregend.
Noch mehr Neunzigerjahre gefällig? Dann ist «(S)KiDS» der richtige Film für dich. Das Punk-Musical mit 23 Songs von Rare Americans wurde unter der Regie von Leslie Solis und Louis Solis zu einem wilden Ritt mit harten Schlägen gegen das Establishment und die Kirche in Kanada. Die treibende Musik, der US-Comic/Cartoon-Stil und die Easter Eggs («Breakfast Club», «Daria») kommen super zusammen.
Festivaltage 4 • Spanisch Brödli 3
Der letzte Tag am diesjährigen Festival bedeutete keinesfalls Stillstand, sondern zur frühen Morgenstunde gleich ein Stop-Motion-Vergnügen mit «Living Large». Die Coming Of Age Story von Kristina Dufková behandelte Übergewicht, Liebe und Mobbing, lieferte tolles Charakterdesign und coole Tauben; inhaltlich viel Empathie aber wenig Innovation.
Um grosse Umwälzungen ging es bei «Sultana’s Dream», werden in der Mischung aus Dokumentation und Drama die Axiome des Patriarchats demontiert. Isabel Hergueras Film brilliert in der Machart (Aquarell, Henna, Schattentheater), gibt sich bei der Struktur aber verzettelt und lässt die Motivation der Hauptfigur wenig spürbar werden. Trotzdem: Sperrt uns Männer weg!
Mein Langfilmabschluss fiel mit «The Colors Within» relativ konventionell aus, zeigt der Anime von Naoko Yamada eine nette Slice Of Life-Geschichte über ein Mädchen aus einer christlichen Schule. Während das Setting und das Drehbuch, welches viele Punkte zu schnell fallenlässt und wenig Spannung bietet, mein Geschmack gar nicht trafen, wusste der Score inklusive einem Underworld-Cover sehr zu gefallen.
Festivaltage 5 • Spanisch Brödli 4
Die Langfilme des Fantoche 2023 haben wir in diesem Beitrag besprochen.
Fantoche International Animation Film Festival 2024
Ort:
Diverse Lokale, Baden
Datum:
03. bis 08.09.2024
Website:
fantoche.ch