von Michael Bohli • 07.11.2023
Aus Zofingen stammend, lebt und arbeitet der Fotograf Björn Siegrist in Zürich. Wir haben ihn zu einem Gesprächsspaziergang über die Stadt, das Bild und das Unsichtbare getroffen.
Menschen und Tiere? Auf den Fotografien von Björn Siegrist findet man selten lebende Wesen, die Bilder werden von Konstruktionen, Gebäuden und Nichtorten beherrscht. Der gelernte Architekt und Co-Präsident der Ortsgruppe Aargau im Schweizerischen Werkbund hat ein Auge für die oft übersehenen Dinge.
Aufgewachsen in Zofingen, lebt und arbeitet er seit längerer Zeit in Zürich und widmet sich dem Abbild von Gegebenheiten, die auf den ersten Blick unscheinbar sind. Bei einem Spaziergang dem Sihlufer entlang haben wir uns mit dem Fotografen über seine Arbeit und seinen Blick auf die Welt unterhalten. Der Start in den Rundgang erfolgte standesgemäss in der Halle des Hauptbahnhofs.
Phosphor: Wir befinden uns gerade unter Niki de Saint Phalles Schutzengel. Ursprünglich kommst du aus Zofingen, was bedeutet dir Zürich?
Björn Siegrist: Ich fühle mich wohl in Zürich. Hier kommen verschiedene Menschen und Ansichten zusammen. So eine «kleine grössere Stadt» ist wie ein Organismus, der aus vielen kleinen Teilen besteht und ein Ganzes ergibt. Gerade hier am Hauptbahnhof zeigt sich gut, wie sich alles konzentriert. Ich finde es schön, ein Teil davon zu sein.
Was gibt es hier zu sehen?
Wenn man zur Feierabendzeit durch den Bahnhof läuft, sieht man Gewusel, Menschen und Veranstaltungen. Die Dimensionen der Halle erfasst man nicht – das funktioniert erst, wenn man beispielsweise nachts herkommt und alles leer ist. Dann tritt der Hintergrund nach vorne und man sieht plötzlich Dinge, die einem noch nie aufgefallen sind.
Ist der Hauptbahnhof ein repräsentativer Ort für Zürich?
Ja, auch für eine Stadt im Allgemeinen. Er orientiert sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft, wird laufend geplant, um- und ausgebaut – und sobald etwas fertig ist, ist es schon wieder zu wenig, und etwas Neues kommt. Hinzu kommt die logistische Meisterleistung im Untergrund, die es uns ermöglicht, hier einzukaufen und zu konsumieren.
Hier prallen viele Eindrücke aufeinander. Wie ist das mit Fotos: Zeigen auch sie das Unsichtbare?
Unbedingt. Darin liegt für mich eine der wichtigsten Funktionen der Fotografie: etwas hervorzuheben, zum Hinschauen zu zwingen. Deshalb fühle ich mich mit der Fotografie wohl – ich schaffe nichts Neues, sondern zeige, was schon da ist. Auch selber entdecke ich beim Betrachten meiner Fotos Neues. Verbindungen herzustellen, die Bilder beispielsweise für eine Ausstellung zusammenzubringen, finde ich spannend.
Du arbeitest also nicht mit einer fixen Idee im Kopf. Wie entstehen deine Bilder?
Das ist verschieden. Manchmal gehe ich gezielt an Orte, auch mehrmals, mit Stativ oder bei anderem Wetter. Es kommt aber auch vor, dass ich zufällig etwas entdecke und spontan abdrücke. Was in die Ausstellungen kommt, ist dann oft eine Mischung aus beidem.
Würdest du sagen, dass du einen bestimmten Stil hast?
Es sind selten Menschen auf meinen Fotos (lacht). Man merkt sicher, dass ich aus der Architektur komme, es gibt selten Bewegung auf den Bildern. Genau einordnen kann ich mich aber nicht.
Zeigt sich eine gewisse Strenge der Architektur auch in deinen Bildern?
Ja, ich denke schon. Mir sind Ausschnitt und Komposition sehr wichtig. Ich finde Bilder dann am interessantesten, wenn sie knapp an diesen rationalen Regeln vorbeischrammen – wenn etwas daran nicht ganz stimmt, man aber nicht sofort erfassen kann, was es ist. Damit beschäftigt man sich als Fotograf wohl ein Leben lang: Nach diesem Etwas zu suchen und darauf zu vertrauen, dass man es findet.
Wir befinden uns hier bei einem eher fehlerhaften Bauwerk. Wie gehst du mit Fehlern in der Fotografie um?
Das ist einfach, ich zeige sie nicht (lacht). Unter Fotografen gibt es eine spannende Diskussion, ob man Bilder löschen soll. Persönlich sortiere ich aus, was wirklich nichts geworden ist, behalte aber vieles. Plötzlich stolpere ich wieder darüber und sehe etwas Neues darin.
Die Kunst der Fotografie liegt nicht mehr unbedingt in der Technik. Das Handwerk an sich verliert an Bedeutung. Es geht darum, was man auswählt und wie man es zusammenstellt. Das spräche natürlich dafür, sich alle Möglichkeiten offen zu halten. Als typischer Millennial bin ich sowieso schlecht darin, Entscheidungen zu treffen (lacht).
Unterscheidet sich deine Herangehensweise bei Aufträgen und privaten Projekten?
Der Unterschied zwischen der Auftragsarbeit und den freien Kunstarbeiten ist, dass bei einer guten Architekturfotografie der Fokus bzw. ein klar lesbares Thema sehr wichtig ist, während ich bei den Kunstfotografien versuche, genau das zu vermeiden. Ich schaffe dort möglichst ein auf den ersten Blick neutrales Suchbild.
Du stellst gerne an ungewöhnlichen Orten aus. Worin liegt der Reiz?
Die erste Ausstellung – auf Plakatwänden in der Stadt – war den Umständen mit Lockdowns geschuldet. Dadurch habe ich aber gemerkt, dass es mir gefällt, die Umgebung bei der Zusammenstellung der Bilder aufzugreifen. Räume liefern Anknüpfungspunkte, und plötzlich stellt man eine Verbindung zu den Bildern her.
Das spielt wiederum in die Thematik hinein, Unsichtbares sichtbar zu machen …
… Genau. Die Fotografie, die ich gerne mache, hat etwas Selbstreferentielles: Man hat an einem Unort ein Bild, das wiederum einen Ort zeigt, an dem man sonst einfach vorbeigehen würde. Dadurch, dass ein Bild dort platziert wird, realisiert man plötzlich, dass es überall etwas zu sehen gibt – wenn man will.
Wir sind in deinem Atelier angekommen – was bringt die Zukunft?
Ab dem 16. November gibt es zusammen mit dem Verband der Schweizer Pressefotografen eine Ausstellung in der Photobastei. Dort stelle ich vier Bilder aus.
Ansonsten arbeite ich gerade an verschiedenen Aufträgen in der Architekturfotografie und stecke bei zwei langfristigen Projekten mitten in der Vorbereitungsphase, sprich Visum, Zutrittsgenehmigungen von Behörden etc. Die beiden Bereiche – Architektur- und Kunstfotografie – wachsen immer mehr zusammen, und daran will ich weiterarbeiten.
Gibt es etwas, das du mit deiner Arbeit vermitteln möchtest?
Es geht mir vor allem um den bereits angesprochenen Punkt: zum Hinschauen aufzufordern. Meine Bilder haben keinen offensichtlichen Fokus, sondern zwingen die Betrachtenden, selber etwas darin zu entdecken.
Vielen Dank für das spannende Gespräch!
Björn Siegrist ist fleissiger Besucher des Schauspielhauses Zürich und des Theater Neumarkt. Nirgends ist die Abstraktion so lebendig wie im Theater.
Verbandsausstellung spv.
Ort:
Photobastei, Zürich
Datum:
16.11. bis 03.12.2023
Website:
photobastei.ch