von Michael Bohli • 11.03.2025
Gibt es Neutralität? Ist die Schweiz als politisches Land neutral? 14 Kunstschaffende beziehen in der Ausstellung «Modell Neutralität» im Aargauer Kunsthaus Position, Ergänzungen liefert die dazugehörige Publikation.
Als die Ausstellung im Februar eröffnet wurde, war es eine überfällige und viel zu selten gesehene Auseinandersetzung mit dem Begriff. Durch die geopolitischen Entwicklungen in den letzten Wochen hat sich die Präsentation im Aargauer Kunsthaus zu einem brandaktuellen Diskurs gewandelt. «Modell Neutralität» ist als Ausstellung und Buch anregend und aufregend.
Für mich ist klar: Das Konzept der Neutralität existiert nicht, die Schweiz ist als globaler Finanzplatz und als Importeurin von unzähligen Rohstoffen und Exporteurin von (militärischen) Produkten proaktiv. In eine ähnliche Richtung zielen die Werke, welche in Aarau zu sehen sind. Jede Person hat ihre eigene Perspektive auf den Begriff, «Modell Neutralität» liefert Auseinandersetzungen als raumfüllende Installationen, Videoarbeiten und einzelne Objekte.
Damit nehmen die Künstler:innen viel Raum ein, was viel Entfaltung und Wirkung bedeutet. «La transparence n‘est pas tranquille» von Davide-Christelle Sanvee spielt mit der Sichtbarkeit, dem Aus- und Durchblick. Bei «Wirtschaftslandschaft Davos» von Thomas Hirschhorn erregen sowohl die Arbeit wie ihre Aussage die Gemüter, Guerreiro do Divino Amor zerlegt in mehreren genialen Werken die feuchten Träume der liberalen Rechten und enttarnt deren Lügen.
Ähnlich konkret wird es bei «Welcome to Switzerland, if you can afford it» von Felix Stöckle, schliesslich kann eine Rüstungsindustrie nie neutral sein. Rasch wird in Aarau klar, dass die heraufbeschworene Neutralität ein Mythos in kapitalistischen Zeiten ist, dazu passend finden sich in vielen Kunstwerken Spuren von Sagen und spirituellen Motiven.
272 Seiten • Softcover • Scheidegger & Spiess • 978-3-03942-266-1
Die Intensität der Ausstellung wird im begleitenden Buch selten erfasst, dazu ist das Format zu klein und der Fokus anders. Die Publikation, welche auf 270 Seiten Text, Bilder und Perspektiven zusammenbringt, erörtert die Frage der persönlichen Sicht auf das Konstrukt «Neutralität».
Diverse Autor:innen finden Gedanken aus künstlerischer, menschlicher oder historischer Sicht, verbinden die Fragestellung der Ausstellung mit dem Krieg in der Ukraine, dem Goldhandel und den kolonialistischen Verflechtungen der Schweiz. Die Essays lesen sich kurzweilig, sind gedankenanregend und schöpfen neue Facetten aus der Ausstellung und den Werken.
Die Arbeiten der Künstler:innen sind als Bildreihen enthalten, optisch leicht verfremdet, was die Wirkung der Räume des Kunsthauses nicht gänzlich spürbar macht, aber gelungen mit dem geschriebenen Wort in Dialog tritt. Das zeigt, dass die Diskussion um Neutralität nie abgeschlossen sein kann.
«Modell Neutralität» ist als Kombination aus Buch und Ausstellung eine lehrreiche Erfahrung auf vielen Ebenen. Auch losgelöst vom Kunsthaus funktioniert die Publikation sehr gut und leistet einen wichtigen Beitrag zur heutigen Auseinandersetzung mit der geopolitischen Stellung der Schweiz. Was bleibt sind meine Wünsche für mehr Einsicht, globale Kooperation und Menschlichkeit.
Modell Neutralität
Ort:
Aargauer Kunsthaus, Aarau
Datum:
01.02. bis 11.05.2025
Website:
aargauerkunsthaus.ch
Titelbild: Le Miracle d’Helvetia, 2022 Coll. Fonds cantonal d’art contemporain, Geneve © Guerreiro do Divino Amor / Foto: David Aebi