von Michael Bohli • 23.12.2024
Schwelbrand bringt dir neue Musik ins Haus. Die zweite Ausgabe zelebriert vielseitige Pop-Veröffentlichungen mit Melicious, Marie Jay, LEILA, Julie Meletta, MAÍRA und Mel D.
Ich liebe Popmusik und du bestimmt auch. Also los, machen wir uns auf eine Reise durch sechs neue Veröffentlichungen von Schweizer Künstlerinnen, die mit ihren Liedern die hiesige Szene mit frischer Energie und viel Leidenschaft beglücken.
Pop Punk • Mellow Records
Basel macht Pop: Omg, wie gut ist diese Scheibe? Melicious ist mit fünf Liedern zurück und liefert auf «Ugly Starts and Promises» gehörig ab. Ab der ersten Sekunde ist die Energie überbordend hoch; wie könnte es anders sein mit «Awful Start» und Pop Punk. Das löst angestaute Gefühle, das kitzelt auf der Haut.
Während mir Melicious mit jeder bisherigen Veröffentlichung stärker ans Herz gewachsen ist, beweist die Künstlerin mit dieser EP grosses Talent auf intensive Weise. Pop, Electronic, Punk und Queer-Energy vermischen sich zu einem klingenden Wirbelwind, der modern, inklusiv und persönlich wirkt.
Von der Liebe wird gesungen, von Erinnerungen und unserem Hadern mit dem Selbstwertgefühl – und das alles mit unwiderstehlichen Klängen. «Ugly Starts and Promises» ist wie das Leben; leicht chaotisch, cute und kantig, sehnsüchtig und voller Gefühle, die nach aussen müssen.
Pop, Chanson • Self-Released
Lausanne macht Pop: Sie ist klar von der französischen Szene beeinflusst, was sich in der kecken Mixtur aus Pop-Songs und Chanson-Stimmung zeigt. Darüber einige gesprochene Zeilen und gefühlvollen Gesangsmelodien, «Trottinette» ist die beste Begrüssung, die Marie Jay uns liefern könnte.
Die Synthesizer sind weich-warm, die Beats akzentuiert und die Klangfolgen wechseln zwischen fröhlich und nachdenklich. «Fomo» taucht in die verwirrenden Partynächte ein, «Julie» setzt sich mit Verlangen auseinander – beide mit englischen Worten versehen. Klassischer wirken «Dory» und «Sparadrap», bei denen die Eleganz stärker durchdrückt.
«Trottinette» anzuhören fühlt sich wie eine gemeinsame Fahrt auf dem titelgebenden Gefährt an, mit Herzklopfen aber voller Freude. Ein lautes Lachen, ein frecher Blick in die Vergangenheit und mit Tempo nach vorne – so werden Erinnerungen gemacht.
Pop, Garage • Grönland Records
Bern macht Pop: Wobei, lässt sich die Musik, die LEILA schreibt und veröffentlicht, so simpel mit der Stadt verorten? Die Vibes und Sounds in den Songs lassen an zahlreiche Orte und Gebiete denken, die rauen Genre-Vermengungen tun ihr übriges. Was klar ist: «Generation» ist eine EP voller Highlights.
Sieben Lieder, in denen diverse Angstzustände, Enttäuschungen und Konfrontationen mit der selbstermächtigten Ausdrucksweise der jungen Musikerin zu Erfahrungsberichten umformuliert werden. «abused», «she calls me daddy» und «dragging my feet» bieten die Inhalte und Stimmungen bereits im Titel, musikalisch trifft LEILA ebenfalls den Nerv.
Grime, Garage, Electro und Pop – das klingt nach UK, das wirkt selbstbewusst und unverstellt. «Generation» ist die Weiterführung von «Burnout» und bildet mit diesen Tracks ein modernes Album, das die Zustände der heutigen Zeit perfekt abbildet. Dazu LEILAs Gesang, der alle Stimmungen aufnehmen und auf uns übertragen kann. Wow.
Pop • Phonag Records
Bellinzona macht Pop: Ist ein Horrorfilm gelungen, dann bleibt er nachhaltig in uns. «Splatter» ist zwar kein Gemetzel auf dem Bildschirm, will mich als Lied trotzdem nicht verlassen. Julie Meletta zeigt mit dem und den vier weiteren Tracks auf ihrer EP «Amarcoeur» ihr Talent.
Eigentlich aus dem Tessin, singt sie auf Französisch über Themen, die Menschen aus allen Teilen der Schweiz betreffend – die Liebe und ihre Fehler. Die Synthesizer leuchten, das Tempo ist upbeat und die Stimmung wirkt fröhlich. «Crime» und «Fan Fiction» sind aber keine schmachtenden Lieder über Beziehungen; Julie Meletta kennt die Abgründe.
In dieser Wechselwirkung steckt der grosse Reiz von «Amarcoeur», lässt sich zu den Stücken wunderbar tanzen und grinsen, zugleich holen die Disco-Vibes mit den elegant wirkenden Takten unsere Sehnsüchte und Sorgen in den Raum. «Comedy Drama Mystery» halt, zusammen, untrennbar.
Art Pop • Lauter Musik
Bern macht Pop: «Unfold» dauert nicht einmal eine Viertelstunde und hat neben dem instrumentalen, stimmungsvollen «Intro» bloss vier Lieder vorzuweisen; diese haben es dafür in sich. MAÍRA sind Sängerin Maira Zaugg, _pron0ia_ an der Gitarre, Schlagzeuger Simon Guyer und eine berührende Vielfalt an Ausdrucksweisen.
«Minha Pele» nimmt dich mit wunderschönem Gesang, Nachthimmel-Klängen und Worten auf Portugiesisch in die Arme, für gemeinsame Drehungen und Liebkosungen. Der Art-Pop weitet sich mit «No Foot In Reality» zu grosser Dramatik und Metal-Vibes, um mit «Schwer» jegliche Distanz zu überwinden.
Mundart-Gesang und melancholische Sounds rühren zu Tränen; ein Lied, das dich im Tief besucht und deinen Blick auf das schimmernde Licht richtet. Musik kann Therapie sein, das bewahrheitet sich bei MAÍRA und mit Sprechgesang und Erzähltalent schliesst die Gruppe die EP «Unfold» mit «Drachehöhli» magisch pochend ab. Genial.
Indie Pop • Two Gentlemen
Zürich macht Pop: In grösseren Städten unterwegs zu sein und zu leben garantiert abenteuerliche Tage und Situationen voller emotionaler Tragweite. Mel D hat diese Zustände in ihre Musik übertragen und nach einigen zufälligen Begegnungen und Chancen ihre erste EP fertiggestellt.
Trotz Zürich rumpelt es nicht, zu Indie und Pop gehören die von Renaud Letang produzierten Kompositionen mit starkem Gesang und feingehaltener Instrumentierung. Was in Paris formvollendet wurde, hatte im Privaten von Mel D den Anfang und behandelt intime Momente.
«Soft» zum Beispiel, das wie der Titel daherkommt und nachdenken lässt. «Not Crazy» wirkt dagegen wild und aufgebracht, bis zum famosen Refrain voller Zärtlichkeit. Mel D verstellt sich nicht, mit der EP gibt es reale Emotionen und das abschliessende «Bring The Witches Back» ist ein Ohrwurm-Aufruf für eine bessere Zukunft mit mehr weiblicher Kraft.
Schwelbrand
Die Beitragsreihe bringt dir neue Musik aus der Schweiz näher, persönlich und mit emotionaler Reaktion besprochen. Alben, EPs und thematische Verbindungen; unregelmässig, immer heiss.
Alle bisherigen Kolumnen hier.