von Michael Bohli • 29.03.2025
Schwelbrand bringt dir neue Musik ins Haus. Die sechste Ausgabe lässt dich tief durchatmen mit den Alben von Alessandro Giannelli, GINA ÉTÉ, deb., Julia Heart, Lost in Lona und Berceuses.
Luft holen, Innehalten, Zuhören. Die Welt dreht durch, die Welt dreht sich immer schneller und wir? Damit wir nicht verloren gehen, sind Pausen notwendig. Mit den sechs Alben in dieser Ausgabe von Schwelbrand verleiten wir dich zum Atmen und zum Genuss.
Piano, Ambient • Self-Released
Ganz ruhig einatmen: Der Schlagzeuger Alessandro Giannelli hat für sein erstes Soloalbum die pure Entspannung gewählt. Neoklassik und Ambient mit wunderschönen Soundtexturen, flächigen Klängen und schöner Emotionalität bilden «Speranza».
Die Melodienführung des ersten Stücks «Grado» ist bereits so zauberhaft, dass sich dein Körper und Geist automatisch beruhigen. Die Musik wirkt weltoffen, naturverbunden und sehnsüchtig. Wie Erinnerungen und Gedanken gleiten die acht Tracks durch die Luft und landen sanft in deinem Schoss.
Alessandro Giannelli, bekannt als Mitglied von Egopusher, gelingt es elektronische Tonspuren mit analogen Instrumenten zusammenzubringen, ohne die Magie von «Speranza» zu gefährden. Bei «Martedi» sorgt die Stimme von Nin Lil für eine gefühlvolle Erweiterung, Giannelli selbst verbindet seine Vergangenheit, Herkunft und musikalische Interessen zum formvollendeten Album.
Hybrid Pop • Backseat
Entschlossen ausatmen: Wie wichtig sind Körper und Gesichter, wenn wir diese nicht richtig lesen können? Sei es durch die namensgebende «Prosopagnosia» oder durch gesellschaftlich bedingte Vorurteile, der wahre Mensch findet zu wenig Platz. Dagegen hält GINA ÉTÉ mit ihrem Hybrid Pop.
Zehn Tracks mit vielen Formen und Ausdrucksweisen liefert die Musikerin und nutzt jeden Klang und jedes Wort für wichtige Botschaften. Politische und kulturelle Überlegungen waren immer Teil von ihrem Schaffen, mit «Prosopagnosia» weitet GINA ÉTÉ ihr Engagement aus. Das Weiblich-Sein ist in den Liedern zentral, das Patriarchat wird angegriffen.
Gut so, wichtig so. Auf diesem Album geschieht das mit intensiven Klangfärbungen, vielseitiger Instrumentierung und Liedern, die zwischen träumerischen Popwandlungen und orchestralen Passagen existieren. Bässe und Beats brummen wertschätzend bei «Love To Work», «F***you:you» ist eine Hymne für eine neue Gesellschaftsform. GINA ÉTÉ liefert mit ihren Liedern Hoffnung, Kraft und Wut.
Pop, Jazz • Irascible Music
Atmen und seufzen: Vielseitigkeit wird bei deb. grossgeschrieben, steht der Name für eine Band, die Musikerin Debora Monfregola und sechs Lieder zwischen Pop, Jazz, Soul und Kollektiv. «Peel, Pit, Pulp» nimmt dich mit erzählerischer Kraft gefangen.
Von Bläser gross gemachte Melodien, emotionale Gesangslinien und rhythmisch komplexe Formen, die sich geschickt durch die Kompositionen schlängeln: Die Musik auf dieser EP zeigt hervorragend, wie facettenreich wir Menschen funktionieren. deb. zollen diesem Umstand mit den Songs Tribut – und das packt.
«The Valley» hat die Eleganz des 20. Jahrhunderts, «Purple Fruit» klingt nach Trip-Hop-Indie und «I Love You» ist grosse Gefühle im Hall. Bei «Peel, Pit, Pulp» gibt es Beats, Umarmungen und Experimente; zusammen sind die Elemente und Songs mehr als bloss eine Summe. deb. halten uns auf beste Weise den Spiegel vor.
Folk Pop • Sixteentimes Music
Warme Luft einatmen: Der Fokus liegt beim Coverfoto auf den Bäumen, die Musikerin selbst ist nur schemenhaft zu sehen. In den neun Liedern von «Sanctuary» steht Julia Heart logischerweise im Scheinwerferlicht, der Musikerin ist es aber gelungen, die Songs nach Natur, warmen Tagen und Weite klingen zu lassen.
Singer-Songwriter, Country und Indie sind die Zutaten, geschickt führt die Luzerner Musikerin durch Stimmungen und Erzählungen. Ihre markante Stimme sorgt für eine direkte Verbindung mit der Hörerschaft, «Nasty Cut», «Easy» oder «This Part Of Town» reissen mit und entwickeln sich zu Ohrwürmern.
Das klingt weltoffen, nach staubigen Umgebungen und liefert in den ruhigen Momenten viel Kraft. «Young Again» und «Margot» lassen dich lauschen und mitfühlen, Julia Heart und ihre Band verzieren alle 33 Minuten mit schönen Klangfarben. Zwei Jahre lang wurde an diesem Debütalbum gearbeitet, ein lohnender Aufwand.
Indie Pop • Mouthwatering Records
Sehnsüchtig schnaufen: Lidia Beck und Konstantin Aebli haben die Lieder im Sommer 2023 geschrieben und genauso klingen die neun Stücke. Nach langen Tagen voller Gefühle und Erfahrungen, kurzzeitiger Erschöpfung und sonnengewärmter Haut. Als Lost In Lona sorgen sie für Hoffnung.
«Scared Like A Mother And Her Gun» kommt nicht ohne Schwere oder Melancholie aus, immer aber biegt der Indie Pop in nachdenkliche Positivität ab und zeigt, dass es im Leben einen Ausweg gibt. Verlassen willst du das Album aber nicht, Becks Gesang ist empathisch, die Musik differenziert aufgenommen und warm im Klang. Das macht Mut, sich mit Ängsten, Sorgen oder Problemen zu beschäftigten.
Davon handeln die Lieder auf «Scared Like A Mother And Her Gun» und liefern Sätze, die aus Schmerz Schönheit machen und die Einsamkeit mit kollektiven Emotionen vertreiben. Vom ergreifenden Beginn mit «On Purpose» über das zärtliche «As It Was» bis zum erstarkten Schluss mit dem Titelsong ist es eine berührende Erfahrung.
Lo-Fi • Humus Records
Verwirklicht ausatmen: Das instrumentale «Intro», welches das Album eröffnet, macht es vor. Auf dieser Platte finden Ausdrucksweisen, Stimmen, Gedanken und Persönlichkeiten zu einer Melange der Eigenständigkeit zusammen. «Berceuses» ist wunderbare Musik, Berceuses sind Elie Zoé, Sara Oswald, Melissa Kassab, Aurélie Emery, Delia Meshlir, Gael Kyriakidis, Perrine Berger und Laure Betris.
Wer sich in den letzten Jahren mit der Schweizer Musikszene beschäftigt hat, braucht nach dieser Aufzählung keine weiteren Gründe mehr, um sich die neun Lieder zwischen Indie, Folk und Lo-Fi anzuhören. Ich kann aber versprechen, auch wenn dir Meshlir, Zoé und die anderen unbekannt sind, Songs wie «End Of The World», «You Belong» oder «Chimère» werden dich fesseln.
Unaufdringlich muszieren Berceuses in lockerer Weise, bringen die Stimmen zu berührenden Harmonien zusammen und lassen sich auch zu lauten Gitarrenstürmen mit Querflöte und A-Capella-Schluss hinreissen. Das ist ungewohnt, innovativ und voller Möglichkeiten, mit Cello, Synthesizer, Saxofon und mehr.
Schwelbrand
Die Beitragsreihe bringt dir neue Musik aus der Schweiz näher, persönlich und mit emotionaler Reaktion besprochen. Alben, EPs und thematische Verbindungen; unregelmässig, immer heiss.
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