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Die grossen Damen der Therapie

von Mina Rabenalt • 06.03.2024

Früher dachte ich, dass ich nicht besonders viel mit älteren Menschen anfangen kann. Nicht aufgrund von Antipathie, eher aus Berührungsangst. In meiner Familie überschreitet kaum ein Mensch die Siebzig. Doch durch meinen Beruf konnte ich schnell eine gegenseitige Faszination feststellen.

Fr. Deh ist eine sehr stille Frau. Schlicht gekleidet, zaghaft und stets höflich. Sie kommt aufgrund einer Handerkrankung zur Ergotherapie. Sie ist traurig, dass sie ihren Mann an seinem Heimatort begraben hat lassen, wo sie schlecht selbstständig hinfahren kann.

Frau Deh geht in einen Chor. Wenn sie mir vorsingt oder auf ihren Smartphone Videoaufnahmen ihrer Auftritte zeigt, strahlt ihr Gesicht. Ich habe das Gefühl, dass sie in diesen Momenten glücklich ist, mit sich im Reinen. Sich lebendig fühlt.

Frau Deh schenkt mir Marmelade oder Rezepte für Gesundheitsdrinks, damit ich die Schicksale meiner Patient:innen nicht immer mit nach Hause nehme und ich mein Immunsystem ein bisschen Liebe gönne.

Wir mögen uns sehr, aber bleiben bei einem respektvollen «Sie». Ich habe ihr aussortierten Schmuck präsentiert und sie erlaubte sich ausschliesslich, eine sehr minimalistische, schlichte Anstecknadel als Geschenk anzunehmen. Im Gegenzug erwartete mich bei der nächsten Therapieeinheit ein weiteres Glas Marmelade. Wir wissen beide, dass wir viele Hürden im Leben gemeistert haben. Wir behalten es meist jedoch zwischen den Zeilen.

Fr. Oh ist der Inbegriff einer Lady. Früher im Theater in wichtiger Position, immer auf Absatzschuhen und immer stets darauf bedacht, dass sie ja die volle Minutenanzahl erhält, die ihr zustehen. Sie dirigiert, wann ich welche Körperextremität wie zu machen habe, absolut resistent gegenüber Einwänden, dass das nicht evidenzbasiert ist oder der modernen Ergotherapie nicht entspricht.

Fr. Oh hat nach einem Jahr in der Therapie realisiert, dass sie doch so viele schlimme Erfahrungen in ihrem Leben gemacht hat und dies eng verknüpft ist mit ihrem Umgang mit dem eigenen Körper, der überall taub, schmerzhaft oder angeschwollen ist. Das aufgesuchte medizinische Fachpersonal verhält sich ratlos oder abspeisend ihr gegenüber.

Sie sagt mir, der Überfall von Russland auf die Ukraine hat etwas in ihr ausgelöst.

Sie erzählt von ihrer Schwester, die zu Zeiten des 2. Weltkriegs eine Kugel ins Bein bekommen hat.

Sie erzählt wie sie auf Toilette gegangen war und in der Zeit russische Soldaten ihre Eltern umzingelten und sie nur flüchten durften, weil „die Russen kleine Kinder so mochten“ und sie so ängstlich zu ihren Eltern gerannt war und sie Mitleid hatten.

Ich versuche Fr. Oh wie eine Königin zu behandeln. Sie hat bis zum Tod ihrer Schwiegermutter gewartet, bis sie sich hat scheiden lassen, weil sie sich so mochten und sie ihr keinen Kummer bereiten wollte. Sie ist immer solidarisch, wenn ich für bessere Arbeitsbedingungen kämpfe.

Fr. Dih ist die menschgewordene Berliner Kneipe. Herzlich, rau, redselig und mit einem Sinn für Trivialitäten, die sie aber erzählt, als wäre sie Dostojewski.

Ich gehe zu ihr nach Hause, weil sie blind und dement ist. Und Morbus Bechterew hat sie auch noch. Sie erzählt schillernd von jeder Person, die im Elfgeschosser jemals wohnte. Ich höre ihr gern zu und stelle mir die berichtete Zeit vor.

Letztens ist sie gestürzt im Nachthemd auf dem Weg zum Müllschlucker. Sie lag einige Zeit auf dem Boden und rief nach «Hilfe». Ihr Nachbar hob sie auf, wie des Öfteren. Fr. Dih bleibt im Gegenzug hinunter wieder zum Quasseln.

Sie hat eine Menschenkenntnis, die definitiv nicht akademisch-analytischer Natur ist. Sie hat das Leben gelebt, weiß wie der Hase läuft, und ist die letzte, die man als maulfaul bezeichnet würde. Wenn die Studi-WG oben etwas zu laut abends ist, geht sie mit 4 Tafeln Schokolade hoch, damit «se mal endlich die Guschen halten». Ihre mobile Pflege wohnt im selben Haus und sie hat die Frau, die sie «Engel» nennt, proaktiv angesprochen, ob sie noch Platz hat.

Fr. Dih gibt mit ihrer ehrlichen Art unglaublich viel an einen und es ist um so schöner zu sehen, dass in ihrer Nachbarschaft sie genauso viel zurückbekommt. Zum Abschied sagt sie mir, ich solle vorsichtig sein. Ich erzähle ihr, dass ich gestern zweimal von Männern angesprochen und leider auch verfolgt wurde. Sie rät mir: «Schlag zu Mädel, es trifft immer den richtigen.»

Fr. Weh ist das, was man eine richtig fetzige Alte nennt. Sie ist laut, lustig und genießt das Leben. Sie hat viele Hobbys, ist ständig unterwegs in Deutschland, aber auch im Ausland und besucht ihre zahlreichen Lieben. Wir hassen Nazis und langweilige Konformität.

Sie schickt mir jeden Tag eine Fotocollage zum Morgen und zum Abend und zeigt, wo sie sich schon herumgetrieben hat.

Sie bat um eine Zeichnung eines Lindenbaums für ihren Roman, die sie bekam. Sie schenkt mir alte, stilvolle Medizinbücher, bastelt mir bunte Blumenampeln und als sie erfährt, dass meine Kater schon den vierten Topf mit Pflanzen zerstört haben, schenkt sie mir Dekoblumen aus Plastik.

Sie ist meine Maude und ich möchte den Schmackes, den sie hat, dann auch versprühen. Keine Angst vor nichts und mitten im Trubel. Einfach das machen, worauf man Lust hat ohne konstante Bewertung des eigenen Könnens.

Fr. Weh gab mir ihren Roman zu lesen. Ich sollte Anmerkungen daneben hinschreiben. Ich wusste, dass es um ihre Zeit als Heimkind geht. Uns beide eint die Sehnsucht nach liebevollen Eltern. Uns beide eint das Gefühl nirgends richtig hinzugehören.

Den Roman habe ich nun fertig und meine Hochachtung ist weiter gestiegen. Fr. Weh beschreibt ihre Gruppenvergewaltigung mit 10 Jahren durch Jungs, die nur wenige Jahre älter sind. Vergewaltigung aus Rache des Jungen, der eifersüchtig war, dass Fr. Weh mit seinen besten Freunden lieber Zeit verbringen wollte. Und sie aufbegehrt hatte, als dieser sie beleidigte.

Einmal so stark und krass sein, wie meine alten Ladies, die Dinge durchgestanden haben, die schier unvorstellbar sind. Meine Queens. ❤️

Soundtrack zur Lesebegleitung:


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Über Mina Rabenalt

Mina Rabenalt wurde geboren in Berlin Friedrichshain im Jahre 1993. Aufgewachsen an der Warschauer Brücke und an der Rummelsburger Bucht, war sie schon immer da, bevor es cool wurde und man es sich nicht mehr leisten konnte. Sie arbeitet derzeit als Therapeutin.

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