von Mina Rabenalt • 06.09.2023
Früher habe ich Camping gehasst und schwor mir nach jedem Festival, dass ich nie wieder durch diese Nahtoderfahrung durch Schlaf- und Komfortmangel gehen möchte. Was geht jetzt, 10 Jahre nach meinen ersten Festivalerfahrungen, in der tagelangen Zelebration von Musik mitten im Nirgendwo?
2012 startete meine Festivallaufbahn. Ich merkte schnell, dass ich Grossstadtpflänzchen mit der Natur und dem Schlafen darin wenig am Hut habe. Das Konzept vom Liegen in einer feucht wirkenden Behausung, dazu dauerhaftes Beballern mit nicht ausgesuchter Musik, im schlimmsten Falle Böhse Onkelz, hat sich mir einfach nicht erschlossen.
Jeden Morgen wachte ich mit dem Gefühl auf, jetzt doch todkrank zu sein. Nase zu, hungernd und mit solch enormen Schlafmangel. Von 2012 bis 2016 immer wieder durchgezogen, angetrieben von der Liebe zur Musik. Für problemlos erste Reihe bei Nick Cave zu existieren, würde ich jederzeit in einem undichten Zelt in S-Form um Pfützen liegen oder im Fledermauskostüm nach Berlin zurückfahren, da die gesamte Kleidung durchnässt vor sich hin vegetierte.
2019 dann für die Ärzte zu Rock am Ring und es folgte ein Desaster. Die Liebe zur Musik war nicht stark genug. Sehr kalte Nächte und eher laue Tage führten dazu, dass ich mich in allen Kleidungsstücken angezogen im Zelt wiederfand. Schrecklich am Zittern, packten wir uns zerknülltes Zeitungspapier unter die textilen Berge. Meine Begleitung hatte das in einer Dokumentation über obdachlose Menschen gesehen. Wir überlebten die Nacht und ich hatte Hoffnung, mich über die Witterung hinwegsetzen zu können, trotzdem wir vom Sicherheitspersonal keinerlei Hilfe erhalten hatten und wir auf uns allein gestellt waren.
Ich erhoffte mir Zuflucht in der Musik und wollte nur noch aufs Konzertgelände. Der Weg durch die von Zelten gesäumte Allee dahin war der Grund, warum ich keine Sekunde länger dort verweilen wollte und konnte. Ich erinnere mich an Wasserpistolen, die mich abschossen. Arsch und Brüste. Männergruppierungen. Kommentare. Und selbst vor der Bühne wurde mir noch ungefragt meine Kleidung zurecht gezupft, weil das so ja nicht ginge.
2023 und ich wollte diesen Ausrutscher korrigieren und Festivals wieder positiv besetzen, yeah!
Ich hatte gelernt, wie man richtig Camping betreibt. Alles eine Frage des Equipments. Es konnte vernünftig diniert werden, vernünftige 8 Stunden geschlafen werden und ich danke dem Nichtvorhandenen, dass ich auch 98 Prozent meiner Existenz immer gut kotieren kann. Ich saß auf dem Campingplatz zwischen tollen Menschen und mir ging es gut.
Happy End.
Ich ging entspannt zum Strand, um auf der Beach Stage Schrottgrenze zu sehen. Der musikalische Auftakt für das Wochenende. Die Band machte Ansagen, dass alle FLINTAs (Frauen, Lesben, Intersexuell, Nicht-binär, Transgender oder Agender) nach vorne dürfen. Es wurde ein nicht normatives Leben zelebriert. Wir tanzten mit der Weinschorle in der Hand, es wurde Glitzer gestreut.
Aber Moment mal. In der ersten Reihe waren noch rund 10 cm Platz frei. Ungenutzt.
Ich tanzte so vor mich hin in der zweiten Reihe, rechts von der Bühne. Dann wurde ich für eine professionelle Footballerin gehalten. Zwei Packungen Muskelmassen in Badelätzchen mussten dringend in diese Lücke. Man war stark irritiert, dass sich das Bogenschiessen bei mir wenigstens in einem festen Stand manifestierte und ich nicht durch den harten Aufprall zweier Schultern hintereinander wie ein Flummi durch die Peripherie flog.
Mir wurde signalisiert, dass ich wohl einen Krieg ausgelöst hatte. Wie konnte ich es wagen, fest auf zwei Beinen zu stehen.
Ich beobachtete wütend, wie eine Frau vorn weggedrängt wurde. Sie schaute traurig zu ihrer Freundin dahinter, die offensichtlich nichts mehr sah. Ich wollte Blickkontakt aufbauen und war bereit die Badenixer zu bitten, doch vielleicht hinter den beiden Platz zu nehmen.
Doch die Frauen gingen, und ich wurde mit dem nächsten Stoß, inklusive Sand in meine Richtung treten, wieder daran erinnert, dass meine große und nicht elfengleiche Statur und Attitüde ja das Problem sind.
Einer der beiden musste offensichtlich noch mal aus der Masse hinaustreten. Die alternativen Typen mit ihren Connewitzsocken vor mir bemerken den aggressiven Wanderer und gucken mich an. Der berühmte Blick voller Nichts und vermutlich auch Angst vor den Alphatierchen.
In meiner Schilderung folgte bisher immer die Erkenntnis, wie überrascht ich im Folgenden war. Dass ich beim dritten Stoß mit noch mehr Anlauf der Gegenseite laut geworden bin, ihn nach vorn schubste und fragte, was denn sein fucking Problem sei. Dass ich mich hilflos und allein fühlte.
Jetzt blicke ich auf meine gesammelten Konzertkarten und erinnere. Das war nicht das erste Mal Gewaltausübung meinerseits. Da sind mehr Geschichten als ich dachte. Wie deprimierend.
Mir wurde gesagt, dass das alles nur Spaß sei. Ich solle mal entspannen. Eine hysterische Täterin halt.
Ich ignorierte ihn, als er mit seinen Kumpanen von dannen zog und sah im Augenwinkel, wie er wohl doch noch zum Entschluss kam, dass ich Prügel verdiene. Wurde vom Oberalpha aber wieder zurückgepfiffen.
Alles in mir schrie Panik und Gefahr. Und der einzige Mensch, der mir beistand, war die Assistenz von einem Herrn im Rollstuhl. Er fragte mich während des aus dem Rollstuhl mobilisieren, ob es mir gut ginge, was passiert ist und ob wir das Awarenessteam holen sollten, welches sich rund 10 bis 15 Minuten Fußmarsch entfernt mitten im Nirgendwo befand.
Ich wünsche mir so sehr, dass dieses Verhalten Konsens ist. Es kann doch nicht sein, dass mal wieder nur eine quotensoziomedizinische Fachkraft adäquates Verhalten zeigt. Wäre ich reich, würde ich jedem Menschen der Welt darin eine Fortbildung spendieren. Versprochen.
Einen Heulkrampf auf dem Asphalt später sah die Welt schon anders aus. Nicht.
Songabbruch bei Team Scheisse, weil nach vorheriger Ansage eines FLINTA-Moshpits zu viele Typen sich darin tummelten, härtere Verletzungen inklusive Totenstille im Publikum mit Sanitätseinsatz bei Großstadtgeflüster, Machtspielchen im Einlass, wo mir mein Fächer weggenommen und vor meinen Augen damit gespielt wurde, mit der Bemerkung auf den Lippen, dass ich damit ja nicht hineinkönne. Die Ärzte, wie sie zum ersten Mal in meinem Leben beschissen live spielen und zum wiederholten Male nervige Rammsteinwitzchen machen.
Im Zelt liegen und den einen Nachbar, der selbstverständlich tausendfach durch unseren Pavillon mitsamt Bollerwagen durchraste und Schuhe, Kleidung oder Heringe in Mitleidenschaft zog, belauschen, wie er ein andere Frau verbal austestete und in sexuelle Handlungen quatschen wollte. Da lag ich und war bereit, eine Vergewaltigung zu verhindern. Eigentlich wollte ich doch nur Musik konsumieren.
Ich hatte nach der Erfahrung eine Sehnsucht nach der guten alten Zeit, wo keine Smartphones bei Konzerten gezückt wurden. Wo alle solidarisch gemosht haben und man gemeinsam eine gute Zeit hatte. Stellte sich beim Durchforsten meiner Eintrittskarten heraus: Diese Zeit gab es ja gar nicht.
2008 bei die Ärzte in der Wuhlheide plötzlich gepackt und getanzt werden. (Ich war 15 Jahre, der Herr bestimmt doppelt so alt.)
2011 sich gar nicht auf das Konzert von Peter Doherty konzentrieren können, weil die Herrengruppe hinter mir konstant die viel zu volle Masse nach vorn drückt und unbedingt eine Eskalation seitens des Sängers provozieren will.
2015 bei Primus gefragt werden, was ich als «Mädchen» denn hier will.
2016 bei Refused einen Herr wegschubsen, der nach Ansprache, dass da eine Person mit gebrochenem Bein ist, nicht aufhörte körperlich zu bedrängen.
2016 bei den Editors von einem Herrn solange belagert werden, bis man ihm seine E-Mail-Adresse gibt. Danach folgten Mails mit vielen Fotos vom Konzert, primär allerdings Portraits von mir.
2016 bei The Cure sich dauerhaft unsicher fühlen in der dritten Reihe, weil sich das gesamte Konzert zwei Mittvierziger direkt hinter mir prügeln mussten.
2017 bei Nick Cave & the Bad Seeds beleidigt werden, nachdem man freundlich gebeten hat, dass Tablet aus meinem Gesicht zu entfernen, da ich nicht 64€ dafür bezahlt habe, auf einen Bildschirm zu starren.
2021 in der ersten Reihe von Helge Schneider sitzen und körperlich von einem Herrn bedrängt werden, bis ich den Platz wechsle. Dahinter eine Männergruppe, die in der Pause jede einzelne Frau kommentiert, die vorbeiläuft.
2022 bei Scooter zwischen vielen Männergruppen, die «Ostdeutschland» riefen und «Leyla» singen, was mir jedes Mal Gänsehaut verpasst, und an meine Tante denken lässt, die meinte, dass das wohl die Nachfahren der DDR-Bürgys sind, die jeder Banane hinterhergerannt sind, weil sie immer mehr haben wollten als alle anderen. Dort wurde ich im Moshpit so hart gestoßen, dass ich kurzzeitig keine Luft mehr bekommen habe und mir das restliche Konzert über sehr viele Rippen wehtaten.
2022 in Minden bei die Ärzte ein emotionales Konzert vorne im Pulk haben (welches ich zunächst positiv empfinde, aber im Nachgang viele Aspekte kritisch sehe), im Nachgang müssen meine Begleitung und ich bis 2 Uhr nachts auf den Zug nach Berlin warten, wo wir 3x von Männern ausgefragt und nach Hause eingeladen werden. Beim Dinieren am Imbiss setzen sich 5 Männer dazu, es wird ein Waffenschein gezeigt, gefragt, ob man eine Frau kenne oder diese ist, die mindestens zweimal täglich für sexuelle Aktivitäten zur Verfügung steht. Ich erzähle die Anekdote durchgängig humoristisch, denke mir oftmals aber, dass das brenzlig hätte werden können, wenn ich an dem Tag nicht kommunikativ so fit gewesen wäre.
Ach ja, und bei der Ankunft in Minden, lief ich über eine Brücke, wo ein Autofahrer sich die Zeit nahm, neben mir zu fahren, um mir noch entgegen zubrüllen: „Du siehst übrigens scheisse aus!“
Ernüchterung Deluxe also.
Im Zuge der Kolumne fasste ich zunächst den Entschluss, alle meine besuchten Konzerte und Festivals aufzulisten, um anhand von Tagebucheinträgen und Erinnerungen die Atmosphäre beim jeweiligen Ereignis zu rekonstruieren. Eine eigene Statistik, wie viele Prozent der Events ein Geschmäckle gedanklich hinterlassen. Um meinen Zustand der Verletzlichkeit, meine Wut und dieses Gefühl von ungerechter Behandlung zu rechtfertigen. Begründungen zu finden, warum es mich aufwühlt und jede einzelne Situation innerlich rumort und mich zurücklässt mit der Gewissheit, dass ich im öffentlichen Raum niemals Sicherheit verspüren werde.
Ich habe mich nun gegen das Leben als herumlaufende Statistik entschieden. Ich werde die Menschen nicht erreichen, die mich ungehört und ungesehen in diesen Situationen oder in meinen Schilderungen zurücklassen. Egal, wie viele Beispiele und Statistiken ich vorweisen kann, am Ende sind es wieder ungünstige Verkettungen oder Einzelfälle. Da kann man ja eh nichts machen.
Ich lächle es nicht mehr weg, ich erlaube mir den Schmerz zu fühlen. Ich kann nicht mehr «mir den Spaß nicht durch irgendwelche Idioten verderben lassen» und «drüberstehen».
Meine Erfahrungen sind nicht individuell. Ich kann nichts tun, als dieselben Worte zu finden, die schon andere gefunden haben. Ich kann keine neue große Erkenntnis gewinnen oder daraus eine dramaturgisch einwandfreie Inszenierung machen. Es sind die Fragmente, die mich dauerhaft beschäftigen.
Wenn ihr Wunschthemen, Anregungen und Pöbeleien habt oder in den Genuss der Superpower des Weltbeste-Mixtapes-Machens kommen wollt, dann sendet eine Nachricht an:
Über Mina Rabenalt
Mina Rabenalt wurde geboren in Berlin Friedrichshain im Jahre 1993. Aufgewachsen an der Warschauer Brücke und an der Rummelsburger Bucht, war sie schon immer da, bevor es cool wurde und man es sich nicht mehr leisten konnte. Sie arbeitet derzeit als Therapeutin.