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2024, oder Scheisse am Schuh bleibt Scheisse am Schuh

von Mina Rabenalt • 10.01.2024

Ich habe Silvester eigentlich seit Anbeginn der Pubertät gehasst. Es wurde erwartet, dass ich lieber mit Freundys feiern möchte und mich Exzessen hingeben soll. Ich hingegen will doch nur Figuren giessen und Glückskekse zu irgendeiner Musiksendung futtern. Oder Schlafen.

Schlafen klingt verführerisch schön, aber ich schreibe den Text just um 6:12 Uhr am ersten des Jahres nach einer schlaflosen Nacht mit dem Wissen, dass ich heute so ausgelaugt sein werde. Ich werde die geplante Reise nach Mittelerde sicherlich kognitiv nicht stemmen können und mein morgiger erster Arbeitstag des Jahres wird auch in einem geräderten Zustand mit Ach und Krach vollzogen werden. Ich verspüre unglaublich viel Wut.

Aber warum?

Von aussen betrachtet kann man das Szenario wahrlich sinnig orchestriert begutachten. Ich habe für mich selbst so viele Triggerelemente in den letzten Tag des Jahres gebaut und wundere mich nun über das zu erwartende Ergebnis.

Trigger, die in mir schöne Stressantworten hervorriefen und meinen Körper dazu anregten nicht vorhandenen Überlebensnöten den Kampf anzusagen.

Ich versuchte alle nostalgisch aufgeladenen Elemente in die 2 Stunden zu integrieren, in denen mein Partner nach der Arbeit verfügbar war. Es wurde raclettet, fonduet und zum See gelaufen, wo ich als Kind immer mitsamt Familie hin pilgerte.

Was soll schon schief gehen, wenn man in der Vergangenheit herumgestochert, wa?

Dazu noch viel akustische und visuelle Überforderung durch die Knaller, wie ich es noch nie bisher wahrgenommen habe und die Dummheit wieder aus Gründen der kognitiven Überlegenheit und des sich Beweisens wieder über die eigenen Grenzen schreiten.

Eine schlaflose Spirale aus Symptomen. Herzrasen, Bauchschmerzen, kurzer Atem und panisches Luftschnappen. Alles fühlte sich zerstört an. Ich fühlte mich angegriffen, verletzt und allein gelassen, hatte das Bedürfnis herauszurennen. Flüchten, aber immer mit der Hoffnung mir könnte irgendetwas schlimmes zustoßen. Suizidalität aus heiterem Himmel.

Mein Partner sammelte mich im Wohnzimmer auf und ich verschlief dann den halben ersten Tag des Jahres.

Ich hasse das Jahr jetzt schon leidenschaftlich. Fühle mich um alles, was ich mir die letzten Tage inhaltlich aufgebaut habe betrogen. Verstehe nicht, wie ein so glücklicher Mensch wieder so tief fallen kann. So defizitär erscheint.

Ich sage «Stopp» und halte inne. Wie kann jemand, der so vielen Menschen rät, netter zu sich zu sein, so unbarmherzig und hart gegen sich agieren? Nö. Nur diesen Tag überleben. Nur den nächsten Tag überleben.

Und das habe ich. Erste Arbeitswoche mit Bravour gemeistert und jeden Tag über mich selbst gestaunt.

Wir haben viel über die Nacht von Silvester geredet. Wir haben viel über Traumareaktionen geredet, die wir in verschiedener Ausprägung in uns tragen. Es fällt auf, dass ausschließlich diese Momente für Reibung und Überforderung sorgen in einem Gefüge, was im Alltag durch so viel Liebe und Respekt geprägt ist, wie ich zuvor nie erfahren habe.

Vielleicht war es wichtig, dass 2024 nervenaufreibend und mit einem Gefühl von Scham beginnt.

Vielleicht war es wichtig, zu sehen, dass so viel Selbsthass immer noch in mir schlummert und dann an die Oberfläche tritt, wenn es mir wirklich schlecht geht und aus mir die restliche Energie saugt. Unnötigerweise. Einfach nur aus dem Prinzip heraus, dass ich es ja wohl verdienen müsse.

Ich vermute, dass dieser Glaubenssatz mir über lange Zeit dienlich war. Irgendwie sinnvoll für meinen Überlebensmodus. Jetzt wirkt er nur noch wie ein pubertärer Anachronismus.

Ich werfe ihn weg und werde diesen harten, intensiven Emotionen und körperlichen Veränderungen bei einem weiteren Ausbruch als das wahrnehmen. Sie entsprechen nicht der Realität, in der ich lebe.

Ich muss ihnen nicht glauben.

Ich werde ihnen nicht glauben.

Soundtrack zur Lesebegleitung:


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Über Mina Rabenalt

Mina Rabenalt wurde geboren in Berlin Friedrichshain im Jahre 1993. Aufgewachsen an der Warschauer Brücke und an der Rummelsburger Bucht, war sie schon immer da, bevor es cool wurde und man es sich nicht mehr leisten konnte. Sie arbeitet derzeit als Therapeutin.

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